RE: FAMILIE BENNETT
Ich konnte in Jamies Blick ganz deutlich sehen wie sie im Konflikt mit sich selber stand, wie sie innerlich die Optionen gegeneinander aufwog. Entweder ging sie mit mir mit und tat damit das, was richtig und gut für sie war, oder sie gehorchte ihrem Vater und handelte damit so, wie ihre jahrelange wichtigste Bezugs- und Autoritätsperson es von ihr verlangte. Für einen Außenstehenden wie mich mochte die Entscheidung nicht kompliziert sein, aber in den vergangenen Wochen hatte ich so viel mit Jamie geredet und so viel über sie gelernt, dass ich wusste, wie schwer ihr das gerade fallen musste. Vielleicht war auch das genau der Grund, weshalb ich mich so sehr auf sie fixierte. In meinen Augen war Jamie ähnlich wie die streunenden Hunde, die ich regelmäßig zu mir nahm. Sie hatte auf einmal keine Familie mehr, niemanden, der sich wirklich um sie kümmerte, abgesehen von ihrem Halbbruder. Aber auch der hatte so viele eigene Probleme, dass Jamie daneben oft zu kurz kam. Sie hatte so ein gutes Herz, aber niemand schien sie verstehen und akzeptieren zu wollen. Sie hatte keine Freunde in der Schule, wurde dort nur schikaniert oder ausgenutzt, und niemand half ihr. Vielleicht rief das den Beschützerinstinkt in mir hervor, meinen Sinn für Gerechtigkeit, obwohl ich dieses Gefühl normalerweise nicht gegenüber anderen Menschen hatte. Vielleicht wollte ich ihr deswegen helfen. Weil ich mich so gut in sie hinein versetzen konnte. Weil ich wusste, was gerade in ihr geschah. "Was soll denn passieren? Wenn es schief geht und dein Dad dich findet, dann schickt er dich auf dieses Internat. Du hast also nichts zu verlieren", klärte ich Jamie mit gedämpfter Stimme auf, die Schultern nach oben gezogen. "Du machst nichts falsch. Selbst wenn er die Polizei ruft, dann schicken die dich nicht ins Gefängnis, weil du vor deinem verlogenen, untreuen Vater weg läufst." Schwieriger zu beantworten wurde erst die Frage, wo wir hingehen sollten. "Die Brücke ist vielleicht zu offensichtlich. Zu viele Leute, die dort vorbei kommen. Aber ich kann mich umhören, wo ein paar verlassene Häuser oder alte Fabrikhallen sind. Da finden wir schon was. Oder wir trampen erstmal ein Stück nach Norden, aus der Stadt raus und schlafen dort am Strand oder im Wald, zumindest für ein paar Tage. Bis dein Vater nicht mehr überall nach dir sucht. Und nein, solange du mich nicht noch einmal fragst, ob du mir auf den Geist gehst, gehst du mir auch nicht auf den Geist." Ich lehnte meinen Kopf ein wenig zur Seite, lächelte Jamie mit einem ironischen Ausdruck auf dem Gesicht an, aber drehte mich dann um und zog mir die Kapuze meines Hoodies über den Kopf. "Ich glaube du kennst dich hier im Haus besser aus als ich. Aber wenn dein Dad vor der Tür wartet, dann klettern wir einfach aus einem Fenster auf der anderen Seite und laufen weg?" Erwartungsvoll sah ich Jamie noch einmal in die Augen, dann öffnete ich vorsichtig und so leise wie möglich die Tür von ihrem Zimmer.
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
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