RE: Lagerhalle
Wenn man eines in diesem Beruf lernte, dann war es, dass man niemandem trauen konnte. Niemandem. Nicht den engsten Verbündeten, nicht den Freunden, nicht den Partnern. Wer sich der Kriminalität verschrieb und den Staat belog, dem fiel es auch nicht schwer, das in andere Lebensbereiche einfließen zu lassen. Vor allem nicht, wenn man so tief drin steckte wie Brooke und ich. Nächstenliebe war für uns ein Fremdwort, ebenso wie Mitgefühl. Das waren Charaktereigenschaften, die wir nicht besitzen durften, denn sie machten schwach und angreifbar. Und wer sich so entblößte, der war nicht dafür geschaffen ein solches Imperium gegen die Polizei und die Gesetze des Landes zu führen. Genau aus dem Grund glaubte ich Brooke von Anfang an kein Wort, obwohl sie vor mir noch einmal betonte, dass Summer ihre Lektion gelernt hatte und dass es für sie nichts zu befürchten gab, wenn sie sich an die Regeln hielt. Brooke spielte zwar ihre Rolle perfekt, keine Frage, aber dennoch blieb das unangenehme Gefühl in mir und das äußerte sich, indem ich immer wieder hinter ihrem Rücken Summers Sicherheit kontrollierte. Wenn ich mich unbeobachtet fühlen konnte, dann fuhr ich an ihrer Wohnung vorbei, hielt auf der Straße und wartete dort, bis ich durch das Fenster eine Regung erkannte. Manchmal öffnete sie es, manchmal schaltete sie auch einfach nur das Licht im Raum ein oder aus. Das reichte mir als Beruhigung und ich fuhr weiter. Aber als ich nach ein paar Tagen am frühen Abend mein Auto wieder unauffällig auf dem Seitenstreifen parkte und tief in den Sitz sank, um ihr Fenster mit meinem Blick zu fixieren, passierte nichts. Keine Regung. Stundenlang saß ich dort, bis zum nächsten Morgen, aber das Licht wurde nicht einmal betätigt. Mit einem unangenehmen Gefühl im Bauch entfernte ich mich zwar wieder von ihrem Gebäudekomplex, um meiner Arbeit nachzugehen, aber am nächsten Abend kam ich wieder. Erneut starrte ich mehrere Stunden nur auf ein dunkles Fenster, bis mitten in der Nacht meine Nervosität Überhand nahm und ich mir selber Zutritt zu ihrer Wohnung verschaffte. Zu ihrer leeren Wohnung. Nichts stand mehr in ihren vier Wänden, alle Möbel waren heraus geschafft, keine Kleidung, keine ihrer Habseligkeiten. Es war, als hätte es sie überhaupt nicht gegeben. Was man jedoch ebenfalls in unserem Beruf lernte, war, dass man nicht zu schnell in Panik geraten durfte. Panische Menschen machten Fehler und ich war definitiv in einer Position, in der ich mir das nicht leisten konnte. Regungslos stand ich einige Minuten in diesem leeren Raum, versuchte die Zusammenhänge in meinem Kopf zu setzen, eine Verbindung herzustellen, eine Logik in diesem plötzlichen Verschwinden zu suchen. Es bestand die Möglichkeit, dass sie tatsächlich freiwillig die Stadt verlassen hatte, also rief ich bei ihrem vorherigen Arbeitgeber an und fragte nach. Wenn ich etwas wollte, dann konnte ich sehr beharrlich sein, und deshalb bekam ich auch nach einigen Überredungskünsten die Information, dass Summer vor wenigen Tagen schriftlich gekündigt hatte und seitdem nicht aufgetaucht wäre. Das war zwar noch kein Beweis für ein Fremdverschulden und ich erinnerte mich auch daran, wie sie mir von ihren vielen Umzügen erzählt hatte, aber mein Bauchgefühl ließ sie davon nicht überzeugen. Und meistens behielt es leider Recht.
Ein paar wenige Tage vergingen, in denen ich unauffällig versuchte irgendetwas über Summers Verbleib herauszufinden. Ich fand durch ein paar Kontakte ihre Telefonnummer heraus, aber dort meldete sich niemand. Ich sprach mit einigen ihrer Kolleginnen, aber auch die wussten nichts. Ich redete mit dem Wirt aus der Kneipe, in der ich sie mit Brooke getroffen hatte, aber auch er hatte sie nicht gesehen. Nur eines wurde immer wieder erwähnt: Dass Summer ständig ihren Wohnort wechselte. Dass es sie nie lange an einem Ort hielt. Aber mittlerweile steckte ich so tief drin, dass ich keine Ruhe geben würde, bis ich sie nicht gesehen oder mit ihr gesprochen hätte.
Eine knappe Woche verging seit ihrem Verschwinden, bis sich plötzlich eine weitere Idee in meinem Kopf einnistete. Immer wieder hatte ich in Gesprächen unter Brookes Handlangern mitbekommen, wie sie über Chris redeten. Darüber, dass auch er sich mit der Rothaarigen angelegt und ihren Zorn auf seine Seite gezogen hatte, wegen irgendeiner ihrer Huren. Was genau da passiert war interessierte mich nicht, aber vielleicht war das ein Ansatz. Chris und ich kannten einander noch aus New York, hatten dort einige Geschäfte miteinander geführt und als ich am selben Abend noch vor seiner Haustür erschien, zeigte er sogar so etwas wie Freude darüber, dass wir endlich die Chance hatten uns mal in privatem Umfeld zu unterhalten. Außerhalb von Brookes Lokalitäten. Zu meinem Vorteil war Chris vollkommen durchgedreht, schon immer gewesen. Er war zwar skrupellos und brutal, aber dabei unvorsichtig und nur auf sich selber fixiert. Er dachte nicht weiter, als bis zur nächsten Ecke und als ich ihn unterschwellig nach seiner Beziehung zu Brooke befragte, zögerte er auch nicht haarklein vor mir auszubreiten, wo sein Konflikt mit ihr lag. Er schien eine unfassbare Wut auf sie zu verspüren, die sich in den letzten Wochen nur mehr und mehr gesteigert hatte, und als ich ihn offen danach fragte, wo sie jemanden hinbringen könnte, den sie loswerden wollte, berichtete er mir bis ins Detail von ihren Geschäften im Menschenhandel. Bisher hatte ich nichts davon gewusst, Brooke hatte mich eher auf die Drogen und die Waffen angesetzt - darauf, womit ich mich auskannte - aber Chris schien im Bilde zu sein. Nach all den Jahren unter ihrer Hand. Er erzählte mir sogar bereitwillig von einer alten Lagerhalle, in der sie diese Menschen unterbrachte, hauptsächlich Immigranten. Ich wusste, dass Chris nicht mehr lange leben würde, falls Brooke irgendwann erfuhr, welche geheimen Informationen er hier mit mir teilte, aber davon sagte ich ihm kein Wort, als ich aufstand und mich verabschiedete. Er würde es noch früh genug merken.
Mir war durchaus bewusst, wie dumm und leichtsinnig es von mir war, direkt dieses besagte Lagerhaus anzusteuern, ohne weitere Informationen, aber die letzte Woche hatte mich tatsächlich immer mehr zur Verzweiflung getrieben. Wenn Brooke wirklich etwas mit Summers Verschwinden zutun hatte, dann würde sie sie nicht länger als nötig in der näheren Umgebung halten und mittlerweile waren schon so viele Tage vergangen, dass die Chance sie zu finden immer mehr sank. Es blieb einfach keine verdammte Zeit mehr. Meine Vorsicht verlor ich dadurch trotzdem nicht. Das Auto stellte ich ein paar Straßenecken von dieser Halle entfernt ab, bewegte mich im Schatten der Häuser immer näher auf die genannte Adresse zu und als ich endlich dort ankam, mich im Schutz einer Mauer versteckte, entdeckte ich tatsächlich einen Truck vor dem Eingang. Ich konnte beobachten, wie zwei Männer immer mehr Menschen auf die Ladefläche führten, teilweise gegen ihren Willen, aber keine der Personen sah Summer auch nur ansatzweise ähnlich. Das Herz in meiner Brust schlug schwer, den Lauf der Waffe hatte ich bereits fest mit meinen Händen umschlossen, als ich etwas hörte, das dafür sorgte, dass sich meine Kiefer fest aufeinander pressten. "Waren das alle?", fragte einer der Männer und der andere antwortete: "Nein, eine fehlt noch. Joe bringt sie gleich raus. Er sorgt noch dafür, dass sie endlich ihre Fresse hält." Ich wusste, wer Joe war. Und auch Summer hatte schon seine Bekanntschaft gemacht. Und auf einmal fühlte es sich so an, als gäbe es keinen Zweifel mehr, dass diese Frau, über die dort geredet wurde, tatsächlich die war, die ich so dringend suchte. Diesmal nahm ich mir nur wenige Sekunden, um die Situation zu überdenken und einen Plan zu entwickeln, aber ich war mir des Risikos durchaus bewusst, als ich einen Schalldämpfer auf meine Waffe drehte und am Rande des Lagerhauses entlang ging, bis ich ein Fenster fand, das sich öffnen ließ. Es brauchte ein wenig Anstrengung, aber kurze Zeit später stand ich im dunklen Gebäude und stand vor einer nervenzerrenden Wahl. Entweder bewegte ich mich so vorsichtig wie möglich und versuchte meine Deckung zu wahren, aber riskierte dadurch, dass Summer etwas zustoßen würde, das sie vermutlich nie vergaß. Oder ich versuchte sie so schnell wie möglich zu finden, aber nahm dafür in Kauf eventuell einen Fehler zu begehen. Warum auch immer, diesmal tat ich etwas, das ich sonst nie tat, und entschied mich für die zweite Version. Mit der Waffe schussbereit vor mir ging ich einen langen Flur hinab, öffnete mehrere Türen und wich immer wieder vor bestialischem Gestank zurück. Die Menschen lebten hier wie Tiere, in dunkle kleine Räume eingesperrt, niemand sorgte für Sauberkeit. Ich stolperte gerade erneut aus einem Zimmer wieder heraus, in dem sich Fäkalien in einem Eimer gesammelt hatten, als ich die Stimme eines Mannes gedämpft durch ein paar Wände hörte und genau dieser Spur folgte, bis ich vor einer weiteren geschlossenen Tür stand. Es bestand kein Zweifel, dass jemand in dem Raum dahinter war, aber weil ich nicht wissen konnte, ob er eventuell selber ebenfalls die Waffe auf Anschlag hielt, stieß ich mit voller Wucht die Tür auf und richtete direkt den Lauf meiner Pistole auf die Ecke im Raum, in der sich etwas bewegte. Joe lag mit seinem vollen Gewicht auf Summer, drückte sie in die dünne Matratze eines klapprigen Bettes, zumindest so lange, bis er mich erkannte, auf die Waffe in meiner Hand sah und aus Reflex versuchte nach seiner zu greifen. Erfolglos, denn noch eher der die Finger zu seinem hinteren Hosenbund führen konnte, traf ihn ein Schuss im Oberarm, der ihn erbärmlich aufschreien ließ. Einer meiner Fehler, die ich in der Schnelligkeit beging, denn es konnte gut sein, dass dieser Laut bis nach draußen zu hören war. Und nur deshalb traf ihn sofort danach noch ein Schuss in den Kopf. Lieber hätte ich ihn leiden sehen, mich an seinen Schmerzen ergötzt, vielleicht noch meinen Fuß in seine blutende Wunde gedrückt, aber stattdessen bekam er einen schnellen Tod. Und Summer nicht die Rache, die sie eigentlich verdiente, sondern nur Blut und Fetzen seines Gehirns, die sich auf ihr verteilten. "Bist du okay?", fragte ich mit gewohnt fester Stimme, obwohl das Herz in meiner Brust noch immer raste, ging auf das Bett zu und stieß mit meinem Fuß gegen den leblosen Körper von Joe, damit sie sich unter ihm befreien konnte. So sehr ihr das auch wehtun würde und obwohl ich dadurch mit Sicherheit ihre Lippe aufriss, zog ich mit einem Ruck das Klebeband von ihrem Mund. "Hat er dir was getan?"
CHARLES LUCAS THOMPSON # 34 YEARS OLD # CRIMINAL
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