RE: KRANKENHAUS
"Nicht die Vernunft war das Problem", sprach ich sofort kopfschüttelnd dagegen und sah Jamie von der Seite wieder in ihr Gesicht. "Ich hatte kein Problem damit, dass sie ihren Schulabschluss nachholen oder studieren gehen wollte, ich fand das gut. So wie ich das auch bei dir immer noch gut finde. Das Problem war, dass sie alles andere darüber vergessen hat. Sie war auf einmal der Meinung, das, was ich tue, wäre völlig sinnlos. Und ich könnte doch nichts verändern, wenn ich einen Hund von der Straße mitnehme oder ein paar Mäuse aus einem Labor befreie. Und genau da lag dann der Konflikt, über den wir nicht hinweg gekommen sind. Ich glaube grundsätzlich waren wir im Kopf nicht so verschieden, sie wollte sie Welt auch zu einem besseren Ort machen und das hat sie vermutlich auch zu ihrem Studium motiviert, aber dadurch hat sie aufgehört die einzelnen Parteien zu sehen, sondern nur noch an die große Masse gedacht. Sie wollte Gesetze schaffen, die Tierversuche verbieten, aber hat mich gleichzeitig dafür kritisiert, dass ich aktiv was dagegen tue. Weil ich dadurch riskiere ins Gefängnis zu gehen oder eine Geldstrafe abzuzahlen. Sie war der Meinung das wäre einfach nur dumm und hat mich das auch zu jeder Gelegenheit wissen lassen, daran sind wir dann letztendlich gescheitert. Also nein, nicht jeder Student ist für mich ein Spießer und ich will dich auch nicht in diese Ecke drängen, indem ich dir sage, dass du studieren solltest. Ich meine, was ich gesagt habe. Ich glaube wirklich, dass du etwas verändern kannst und das sollte auch deine größte Priorität sein. Ganz unabhängig davon, ob sich dadurch die Geschichte für mich wiederholt. Vielleicht bist du auch irgendwann der Meinung, dass es total hirnrissig ist, was ich mache. Und vielleicht streiten wir uns dann auch ständig darüber. Vielleicht hatte meine Ex-Freundin sogar Recht, vielleicht ist das völliger Quatsch und vielleicht verändere ich dadurch nicht wirklich was. Die Labore holen sich einfach neue Mäuse oder Kaninchen für ein paar Dollar und Straßenhunde kommen trotzdem noch über die Grenze, egal wie vielen ich helfe. Vielleicht stimmt die Kritik also tatsächlich und vielleicht riskiere ich grundlos meine Freiheit, aber das ist das einzige, was ich machen kann." Und damit hatte ich doch eigentlich schon Jamies Frage beantwortet, die ihr ganz offensichtlich so unangenehm war, dass die Worte nur stotternd über ihre Lippen kamen. Das war nichts, was ich zum ersten Mal hörte, meistens wurde es nur ein bisschen kritischer und vorwurfsvoller verpackt, als sie das gerade tat. Deshalb musste ich auch leise darüber lachen, wie sie sofort versuchte die Wogen zwischen uns wieder zu glätten und mir verständlich zu machen, dass sie nie im Sinn hatte mich für meine Entscheidungen zu kritisieren, aber trotzdem wandte ich den Blick von ihr ab, lehnte mich nach vorne und sah wieder zwischen meinen Füßen hindurch auf den Boden. "Ich werde nie was anderes machen, nein." Bewusst beantwortete ich die Frage nicht so, wie Jamie sie mir gestellt hatte, denn dabei ging es nicht darum, was ich wollte. "Mir geht es gut und ich bin glücklich mit dem, was ich machen kann. Ich kann damit die Welt vielleicht nicht zu einem besseren Ort machen, aber ich kann das Leben dieses einen Hundes retten und das war mir immer wichtiger, als alles andere." Weil Jamies Frage aber natürlich viel mehr umfasste und weil ich wusste, dass ich ihr mit den folgenden Sätzen vermutlich vor den Kopf stoßen würde, sah ich ihr wieder in die Augen und umschloss ihre Hand vorsichtig mit meiner. "Mir ist klar, dass sich das für dich vermutlich komisch anhören wird, aber- für mich gibt es nicht sowas wie eine Zukunft. Ich denke nicht darüber nach, ob ich mit 40 oder 50 Jahren immer noch ohne Geld auf der Straße leben kann, wenn langsam meine Gesundheit nachlässt und ich immer mehr auf Hilfe angewiesen bin, weil ich- nie geplant hab so alt zu werden. 27 ist mein Ziel und dann ist es vorbei. Und bis dahin werde ich genau das tun, was ich jetzt auch mache." Mein Daumen zog sich liebevoll über ihre Fingerknöchel, zeichnete die anatomische Form ihrer Hand nach, während ich versuchte ihr mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen zu verdeutlichen, dass es da nichts gab, um das man sich sorgen musste. Ich war nicht krank oder depressiv, ich fühlte mich nur einfach in dieser Welt nicht Zuhause. Und das war so unheimlich ermüdend, dass ich mir irgendwann im Laufe der Heranwachsens ein Ziel gesetzt hatte.
Ein Ziel, das sich eigentlich immer positiv auf mich auswirkte, wenn ich darüber sprach und daran dachte, aber zum ersten Mal seit langer Zeit bemerkte ich auch wieder, was man alles hinter sich lassen musste, wenn man freiwillig entschied zu gehen. Denn bei all der Unruhe, die Jamie allein aus Gewohnheit mit ihren liebevoll gewählten Worten in mir auslöste, versuchte ich auch endlich die guten Gefühle zuzulassen, die ihre Zuneigung mir gab. Und das brach mit so einer Intensität über mich herein, dass ich ihre Finger ebenso fest mit meiner Hand umklammerte, während sich ein Rausch der Emotionen in mir ausbreitete. Vielleicht würde ich später im Bett liegen und völlig an der Frage verzweifeln, warum meine Eltern diese Dinge in mir nicht gesehen hatten, die Jamie in mir sah. Vielleicht würde ich weinen und schreien und so sehr unter diesen unbekannten Gefühlen leiden wie nie zuvor, aber jetzt gerade - in diesem Moment - fühlte sich das einfach nur gut an. Besser als gut. Und eigentlich hatte ich doch immer genau dafür leben wollen. Für diese Momente. Ohne an die Folgen zu denken. "Ich hab keine Ahnung, ob das zu schnell geht", sprach ich ehrlich aus, doch meine Stimme klang auf einmal kratzig und viel leiser als zuvor. "Aber- das ist- gut. Das fühlt sich gut an." Schon wieder war ich von meinen eigenen Emotionen so überfordert, dass ich nicht die passenden Worte finden konnte, um zu beschreiben, was Jamie gerade in mir auslöste. Stattdessen lehnte ich mich immer näher in ihre Richtung, ganz langsam und ganz bedacht, den Blick durchgehend in ihre Augen geheftet, bis ich nur knapp einen Zentimeter vor ihrem Gesicht inne hielt, die elektrisierende Spannung zwischen uns bis zum Äußersten reizte, und dann sanft meine Lippen auf ihre legte.
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
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