RE: CENTRAL STATION
Als der Langstreckenzug einfuhr, stand Apple geistesabwesend vom Boden auf und schulterte die wenigen Sachen, die sie ihr eigen nennen konnte, in einem einzigen Rucksack. Um nicht so auffällig als Wohnungslose, Minderjährige Person entlarvt zu werden, hatte sie sogar ihren Schlafsack zurück gelassen. Neben einem bisschen Bargeld-Rest von dem Raub, übriggebliebenen Nahrungsmitteln oder Hygieneartikeln vom letzten Einkauf, steckten da nur vereinzelte, knappe Kleidungsstücke in ihrer Tasche, die sie feste mit ihren Armen umklammerte und in einem Teil davon, war gut eingewickelt, die Schusswaffe von Chris versteckt. Apple setzte sich in das Abteil, was ihr am wenigsten voll mit Menschen vorkam und ihre Körpersprache vermittelte auch, dass sie keine Gesellschaft wollte. Hoffentlich dachten alle, dass sie das war, was sie vorgeben wollte zu sein. Ein eingeschüchtertes, junges Mädchen, mit anfänglichem Heimweh weil es erstmals die Verwandten, ganz alleine, mit dem Zug besuchte. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass man in dieser Rolle seine Ruhe hatte. Kein Beamter und kein Schaffner wollte sich den Schuh anziehen, das junge Ding zum weinen zu bringen. An ihrem Körper trug sie die einzigen Sachen, die sie ihrem Alter entsprechend besaß. Es waren die, die sie mit Noah in San Francisco gekauft hatte. Unter dem Stoff, mit der Kapuze tief in ihr Gesicht gezogen, fühlte sie sich so Geborgen, wie es eben in ihrem Leben sein konnte. Jetzt war sie wirklich ganz alleine und das mit all diesen schlimmen Gedanken, Bildern und auch Worten in ihrem Kopf. Die Schuld lastete schwer auf ihr, Lahja und Noah und auch alle anderen, des Lügens bezichtigt zu haben und die Verzweiflung in ihr, was ein Mensch ihr Vater gewesen war und was das nun für sie Bedeutete. Haily war ihre Freundin gewesen, ihre einzige und beste Freundin, seid sie ihr schönes Leben und damit auch ihre Kindheit, hatte zurück lassen müssen. Warum hatte er das getan? Wie konnte man so sein? Was hatte sie in seinem Leben für einen Wert gehabt? Hatte er sie Lieben können oder war das alles nur gelogen? Hatte er nie ihr bestes im Sinn gehabt, sondern nur seine Befriedigung, seine Rache und was auch immer da noch so in seinem kranken Kopf vorgegangen war? Wieso hatte er nicht ein ganz normaler Papa sein können, mit einem scheiß, spießigen Leben? Wieso hatte er nicht aufgehört, solche fürchterlichen Dinge, wie mit Lahja, jungen Mädchen, anzutun? Apple hielt sich krampfhaft an dem Rucksack fest, als sie sich diese Fragen immer und immer wieder stellte und hoffte, irgendwann würde das aufhören. Als Noah das Abteil betrat und der Zug sich, nach einem Pfiff, ruckelnd in Bewegung setzte, registrierte sie gar nicht erst, dass ihr Gast kein Unbekannter war. Mechanisch griff sie nach dem kleinen Seitenfach, in dem das Handy steckte, die dürftigen Ausweispapiere und das Ticket. Es war nicht gespielt, wie sie den Tränen nahe, ihren Text aufsagte. „ Ich fahre Verwandte besuchen, das erste mal allein mit dem Zug, mein...“ weiter kam sie nicht. Es war seine bekannte Stimme und sein Gesicht, was ihr die Kehle und damit die Worte abschnürte. „ Was...“ Nach einem prüfenden Blick war klar, hier bestand keine Fluchtmöglichkeit. Wie könnte sie denn alles, was sie nun in sich trug, mit ihm teilen? Sie Schämte sich so unfassbar. „ Was machst du hier? Wie hast du mich gefunden? Das hättest du nicht tun dürfen, das ist nicht richtig.“ Brachte sie die Gegenfragen fertig und ließ, im Gegenzug, seine Frage unbeantwortet. Was war denn bitte in ihrem Leben noch okay? Nichts war okay. Weil sie Noah nicht ansehen konnte und weil sie das nicht in den Mund nehmen konnte, was sie gesehen hatte, holte sie das gesprungene Handy von Chris aus der Tasche. „ Er hat es... öfter gemacht. Es... es tut mir so Leid. Ich wollte das nicht und... sie kannte ihn nur durch mich und auch was er Lahja angetan hat und das ich ihr das an den Kopf geworfen habe, dass sie Lügt...“ bebend sprach sie ihre Gefühle aus, sich immer wieder für die Taten ihres Vaters entschuldigend und sah angewidert zu Seite, als sie Noah das Bild von Haily auf dem Display zeigte. Das ihr das nicht zustand, daran dachte sie doch gar nicht. Kein klarer, vernünftiger Gedanke hatte Platz in ihr.
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