RE: GEFÄNGNIS
Dass meine kleine, durchgedrehte Hippie-Schwester mir nicht so egal war wie ich gerne hätte, das musste ich in der Vergangenheit schon mehrmals resignierend hinnehmen. Für sie hatte ich mich Gefahren ausgesetzt, die ich sonst für kaum jemanden auf mich nahm, ich ging für sie an meine Grenzen und wenn es ihr nicht gut ging, dann traf das auch meine sonst so gefühlskalte Seele irgendwo dort in meiner Brust, wo eigentlich das Herz sitzen sollte. Ich hatte schon einiges für sie riskiert und einiges für sie eingesteckt, obwohl es mir viel lieber wäre, wenn ich unsere familiäre Beziehung eher mit ein wenig Distanz betrachten könnte, aber das gelang mir leider viel zu selten. Und auch gestern, als mir ihr komischer Freund Aiden aus dem Gefängnis anrief, damit ich Haily zu ihm brachte, kurbelte das schon wieder diesen beinah vergessenen Großer-Bruder-Instinkt an. Warum er dort saß, war mir natürlich nicht entgangen. Wenn jemand starb, der für mich arbeitete, dann erfuhr ich das als Erster, vor allem, wenn derjenige dann auch noch so öffentlich abgemurkst wurde wie Chris, und eigentlich hatte Aiden dafür auch noch eine Abreibung von mir verdient, aber erstmal sollte das Gesetz seinen Teil leisten. Ich wusste ja nicht, was da vorgefallen war. Diese Lücken in meinem Gedächtnis konnte nicht einmal Haily füllen, die ich kurz darauf besuchte und am Boden zerstört in ihrem Zimmer antraf. Eigentlich war ich mir noch nicht einmal sicher, ob ich sie wirklich zu Aiden schicken sollte oder ob ich seinen Anruf einfach ignorierte, aber letztendlich musste ich einsehen, dass ein Gespräch zwischen den beiden auch mir zugute kam. Haily könnte für mich in Erfahrung bringen, woher diese Wut in ihrem Freund kam und weshalb er die Beherrschung verloren hatte. Dann konnte ich angemessen darauf reagieren. Vielleicht war er auch einfach nur auf Drogen gewesen.
Nein, war er nicht. Ich hatte mir sogar die Zeit eingeräumt meine Schwester am nächsten Tag höchstpersönlich am Gefängnis abzuliefern - damit sie mögliche prekäre Informationen, die auch mich belasten könnten, nicht an irgendjemanden weiter tratschte - aber es kam ganz anders, als erwartet. Weinend und völlig außer sich wurde sie von zwei Angestellten hinaus geführt, bis vor das Gebäude, wo ich noch immer auf sie wartete. Sie schluchzte, stammelte anfangs nur zusammenhanglose Wörter, aber in ihrer Verzweiflung konnte ich dann auch vernehmen, was tatsächlich passiert war. Chris hatte sie vergewaltigt. Bis ins kleinste Detail erzählte sie mir, was sie eben von Aiden erfahren hatte, und konnte dabei keine Sekunde aufhören zu weinen. Ich war für solche Ausnahmesituationen gewappnet, bewahrte daher auch wie immer die Fassung, aber innerlich geschahen auf einmal Dinge, die ich nicht kontrollieren konnte: Ich litt regelrecht mit Haily. Bei jedem erneuten Schluchzen schmerzte es in meinem Körper, Wut und Hass gegenüber Chris machte sich bemerkbar und Selbstvorwürfe, weil ich sie nicht davor bewahrt hatte. Weil ich zugelassen hatte, dass sich so in Mensch in ihrem Umfeld bewegte. Ich verspürte Solidarität mit Aiden, denn wenn er nicht schon getan hätte, dann würde ich Chris jetzt zur Strecke bringen, und dann wieder diesen Beschützerinstinkt, der meiner kleinen Schwester galt. Mein Gesicht zeigte noch immer keine Regung und auch mein Körper war steif wie immer, als ich zumindest kurz meine Arme um sie legte, aber ich wollte und konnte sie damit nicht alleine lassen. Ich würde sie jetzt nicht in die Obhut von jemandem geben, den ich überhaupt nicht kannte, sondern führte sie langsam zum Auto und konnte mich zumindest dazu bringen immer mal wieder ein paar tröstende Worte auszusprechen. "Das wird schon wieder." Oder "Beruhig dich erstmal, er kann dir nichts mehr tun." Genau die Dinge, die man eigentlich absolut nicht hören wollte, aber auch die Einzigen, die ein so empathieloser Mensch wie ich zustande brachte. Wenigstens gab es jetzt jemanden in meinem Leben, der besser darin war als ich, und als ich mit Haily im Hotel ankam, mit ihr in meine große Suite ging, da fühlte es sich genau richtig an sie in Summers Obhut zu geben. Offensichtlich vertraute ich Summer so sehr, dass ich ihr ohne Zweifel sogar meine kleine Schwester in die Hände legte und mir damit die nötige Distanz verschaffte, um erstmal für mich selber zu verarbeiten, was für eine Grausamkeit Haily wohl gerade durchlebte. Und um zu überlegen wie ich ihr helfen könnte.
CHARLES LUCAS THOMPSON # 34 YEARS OLD # CRIMINAL
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