RE: KRANKENHAUS
Wenn ich normalerweise eine Stadt hinter mir ließ, dann schloss ich auch wirklich komplett damit ab. Das hieß, dass ich keinen Kontakt mehr zu irgendwem hielt, der mich daran erinnerte oder den ich daher kannte. Genauso plante ich es auch mit meinen beiden Mitreisenden. Ihr nächstes Ziel war Portland, da wollte ich mich dann von ihnen abkapseln und allein weiter nach Kanada reisen, aber ich hatte nicht geahnt, dass sie sich für den Weg dorthin so lange Zeit lassen würden. Die gesamte Strecke von etwa 800 Meilen fuhren sie auf der kleinen, kurvigen Küstenstraße hinauf. Immer, wenn es ihnen irgendwo gefiel, dann hielten sie an oder blieben auch mal spontan ein, zwei oder sogar drei Nächte dort. Sie lebten einfach in den Tag hinein und immer, wenn ich drängend nachfragte, wann wir denn weiterfahren würden, lachten sie nur laut und sagten mir ich müsse mich entspannen. Konnte ich aber nicht, weil diese Unsicherheit und Unruhe nicht komplett aus mir verschwinden wollte, solange ich noch diese Menschen um mich hatte, die mich ständig an das erinnerten, was ich eigentlich hinter mir lassen wollte. Mehrmals stand ich kurz davor mich einfach schon vorzeitig von ihnen zu trennen und den restlichen Weg zu trampen, aber wir waren hier im gottverlassenen Nirgendwo und nach einem missglückten Versuch, bei dem ich drei Stunden an der Straße stand und letztendlich nur eine Verwarnung von der hiesigen Polizei bekam, aber niemanden, der mutig genug war mich in sein Auto einsteigen zu lassen, gab ich nach und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass es sich nur noch um ein paar Tage handeln würde. Abgesehen davon waren die beiden, mit denen ich unterwegs war, ja auch absolut durchgeknallte, aber unheimlich sympathische Menschen. Ich mochte es Zeit mit ihnen zu verbringen und oft schafften sie es auch mich von diesem Gefühl in meinem Körper abzulenken und mich mit verrückten Drogentrips in ganz andere, psychedelische Welten zu schicken.
Knapp zwei Wochen waren wir unterwegs und mittlerweile tatsächlich ganz kurz vor Portland, als etwas geschah, das ich nicht hatte kommen sehen. Meine beiden Mitreisenden hielten noch engen Kontakt zu ihren Freunden aus San Francisco, im Gegensatz zu mir hatten sie nichts, womit sie abschließen wollten, es gab einfach nur zu viel zu sehen auf der Welt. Und zu viele neue Freundschaften zu schließen. Aber das hieß nicht, dass sie plötzlich den Kontakt zu allem Vorherigen abbrachen, im Gegenteil. Fast täglich hörte ich mir lustige Anekdoten der letzten Wochen an, immer gefolgt von dem Satz "Man, das war echt eine schöne Zeit, irgendwann kommen wir zurück nach San Francisco", den ich selber nicht unterschreiben konnte. Ich ging nie zurück in eine Stadt, die ich hinter mir gelassen hatte. Bis jetzt zumindest. Ihre Freunde aus dem Haus, in dem wir alle gemeinsam gelebt hatten, wussten, dass ich noch immer mit den beiden unterwegs war. Und weil sie auch wussten, dass ich mit Jamie gekommen war, wollten sie auch unbedingt, dass die Nachricht von ihrem Unfall an mich weiter getragen wurde. Keiner ahnte, wie nah ich Jamie wirklich stand und dass sie der Grund war, weshalb ich diesmal alles hinter mir lassen musste. Seitdem ich in dieses Auto gestiegen war hatte ich auch kein Wort mehr über sie verloren. Vor der Abfahrt wollten die Anderen zwar einiges über sie wissen, aber ich hatte das alles einfach abgeblockt und herunter gespielt. Nur erwähnt, dass wir einander aus Los Angeles kannten, aber noch nicht lange. Dass es Zeit war weiter zu ziehen und dass sie schon alleine Zurecht kommen würde. Niemand konnte sehen, was wirklich in mir vorging, deshalb wurde auch eher beiläufig beim Abendessen erwähnt, dass sie und Danny - einen Namen, den ich nicht einmal zuordnen konnte - in einen Autounfall verwickelt waren, durch irgendeine illegale Aktion. Was genau da passiert war, wusste man nicht. Ebenso wenig, wie es ihr ging, weil die Polizei natürlich ständig präsent war und niemand aus dem illegal besetzten Haus dort hinein gezogen werden wollte. Man wusste nur, dass einer der beiden den Unfall wohl nicht überlebt hatte und der andere im Krankenhaus lag. Das Essen blieb mir im Hals stecken, all diese negativen Gefühle, die sich innerhalb der letzten Tage immer mehr beruhigt hatten, kamen auf einmal zurück, nur noch viel schmerzhafter und drückender als jemals zuvor. Es war fast so, als würden all meine Befürchtungen und all meine Ängste auf einmal wahr werden. Als würde mich das, wovor ich immer davon lief, auf einmal einholen und in ein dunkles, schwarzes Loch zerren. Ich konnte gar nicht zuordnen, was da genau auf einmal in mir passierte, aber ich konnte dem nicht standhalten. Ich versuchte es, indem ich mir selber einredete, dass das alles und auch Jamie selbst zu meiner Vergangenheit gehörte - dass ich mich davon nicht herunter ziehen lassen durfte - aber es funktionierte nicht. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge schließen. Die Sonne war noch nicht einmal richtig aufgegangen, als ich irgendetwas tun musste, um diese Unruhe in mir zu lindern, und die einzige Möglichkeit dazu führte mich zurück dorthin, wo ich hergekommen war.
Ich packte meine Sachen, verabschiedete mich nicht einmal von meinen beiden Mitreisenden, die noch in ihrem Zelt auf dem Campingplatz schliefen, und lief einfach los. Ich schaffte es jemanden zu finden, der mich erst mit nach Portland nahm - eine Fahrt von etwa einer guten Stunde -, wo ich mir dann eine große Raststätte stadtauswärts suchte und einen Trucker überreden konnte mich auf direkten Weg zurück nach San Francisco zu bringen. Acht Stunden saß ich mit dem fremden Mann in seinem LKW, aber in der Zeit hatten wir so gute Gespräche geführt, dass er sogar einen kleinen Umweg in Kauf nahm, um mich direkt vor dem größten Krankenhaus in San Francisco abzusetzen. Dort, wo Jamie liegen müsste, wenn sie noch am Leben war. Ganz knapp vor Ende der Besuchszeit anscheinend, dem missbilligenden Blick der Pflegerin am Empfang nach zu urteilen, mit dem sie mich begrüßte, als ich um kurz vor 20 Uhr am Abend nach ihr fragte. Mein Herz raste, während sie den Namen in den Computer eingab, und setzte dann einen Schlag aus, als sie nickte und mir die Zimmernummer mitteilte. Sie war also noch am Leben. Für den Bruchteil einer Sekunde zog ich in Erwägung es einfach dabei zu belassen und mit den Informationen wieder abzuhauen, ohne sie zu sehen, aber das konnte ich nicht tun. Das konnte ich mir selber nicht antun. Ich fühlte mich zwar nicht wohl, während ich mit meinem Rucksack auf dem Rücken und mit wackligen Knien nach ihrem Zimmer suchte, aber mich einfach wieder umzudrehen hätte ein noch viel grauenhafteres Gefühl in mir zurück gelassen. Also folgte ich meinem Instinkt, ignorierte den schmerzhaften Druck auf meiner Brust und klopfte zwei Mal schwer an die Tür von Jamies Zimmer, bevor ich die Klinke herunter drückte und hinein ging.
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
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