RE: TATTOO STUDIO
Schon vor dem Unfall war es Madison schwer gefallen offen über ihre Gefühle zu reden. Das war schon so, seitdem ich sie das erste Mal in dieser Kneipe in New York wiedergesehen hatte. Sie war ein lauter und herrischer Mensch, stark und unabhängig, aber wenn es darum ging sich selber angreifbar zu machen, dann kostete sie das jedes Mal unheimlich viel Überwindung. Und gerade seit ihrem Gedächtnisverlust hatte sie sich noch viel mehr vor mir verschlossen, weshalb ich mich auch völlig unverfänglich zu ihr umdrehte, als sie meinen Namen aussprach. Was dann kam war aber nichts Belangloses, sondern- irgendwie alles. Alles, was ich hören wollte und hören musste, um sie noch nicht aufzugeben. Um weiterhin an sie und an uns zu glauben. Um für uns beide zu kämpfen, anstatt zu akzeptieren, dass sie mich niemals wieder so lieben würde wie meine Frau mich geliebt hatte. Ganz warm wurde es in meiner Brust, während sie redete, kribbelnd zog sich immer wieder eine Gänsehaut über meinen Körper und ihr gelang damit tatsächlich etwas, das nur äußerst selten vorkam: Ich war sprachlos. Ohne Regung stand ich zwischen ihr und diesem riesigen Bild von uns beiden und sog mit jeder Pore meines Körpers auf, was mir unheimlich fehlte: Zu spüren, wie sie die Liebe erwiderte, die ich für sie empfand. Das hier war der erste Schritt.
Es brauchte daher auch ein paar Sekunden, bis ich mich wieder so weit gefangen hatte, dass ich es wagte auf sie zuzugehen, mich langsam neben sie zu setzen und behutsam meinen Arm um ihr Knie zu legen. Einfach nur, um Madison nah sein zu können. Um meine Zuneigung durch diese Berührung zu übertragen, so wie ich es immer tat. "Ich weiß gerade gar nicht, was ich darauf sagen soll", gestand ich ein. Ein wenig unsicher wirkte ich sogar, als ich den Blick in ihre Augen hob. "Du hast mir auch schon vor dem Unfall gesagt, wie sehr du mich magst, ja, manchmal, aber- selten so schön wie gerade." Ich lachte einmal auf, weil dieses manchmal so schön zusammenfasste, wie schwer Madison sich damit tat. "Du warst immer besser darin mir diese Dinge zu zeigen, als zu sagen. Auf deine ganz eigene Art. Das da, das mit dem Bild-" Nickend deutete ich auf das Graffiti an der Wand, das mein Herz schneller zum Schlagen brachte. "Das passt zu dir. Sowas hättest du auch früher getan." Vorsichtig lächelte ich sie noch einmal an. "Ich hab nie wirklich herausgefunden, warum du dich so verloren fühlst, Maddi, aber- das alles gehört irgendwie zusammen. Das ist vielleicht- einfach dein Charakter. Du bist stark und unabhängig. Du bist die stärkste, lauteste, impulsivste Frau, die ich kenne, aber da ist auch noch so viel mehr an dir, das du aus irgendeinem Grund äußerst ungerne offen zeigst. Ich glaube du musstest einfach schon immer die Starke sein, auch schon in deiner Kindheit und Jugend. Du wurdest eher geboren als Ian, er hat wegen seiner Behinderung mehr Aufmerksamkeit bekommen, das hat alles dazu beigetragen, dass du sowas wie ein Mauer aufgebaut hast. Dann die Demos, die Trennung von Kilian, Chas, Chris - die Mauer wurde einfach immer größer und es wurde immer schwieriger zuzulassen, dass- selbst du auch mal jemanden brauchst, an den du dich anlehnen kannst. Anstatt immer nur die Person zu sein, bei der andere Menschen Schutz suchen." Von ihrem Gesicht sah ich wieder auf das Bild vor uns, das uns beide so perfekt spiegelte. "Als wir uns kennen gelernt haben war das noch total undenkbar. Ich durfte dich nicht einmal richtig berühren oder küssen oder in deinem Bett schlafen. Sex war okay, aber dass du dich danach in meine Arme legst? Niemals. Du hattest dieses verquere Bild in deinem Kopf, dass dich so etwas schwach wirken lässt und dass du dich damit angreifbar und verletzlich machst. Vielleicht waren das die Überreste deiner feministischen Parolen, vielleicht warst du auch der Meinung du hättest das nicht verdient oder dass du keinen Männern mehr trauen kannst, vielleicht war es auch einfach eine Kombination aus allem, aber- mit der Zeit hast du dich immer mehr geöffnet. Je mehr du gelernt hast, dass du mir vertrauen kannst, desto einfacher wurde das. Ich hatte früher immer das Gefühl, dass du dich in dieser Welt wirklich verloren fühlst. Dass du deinen Weg nicht findest, im falschen Körper bist und vielleicht sogar im falschen Leben. Da war immer etwas, das dich daran gehindert hat wirklich glücklich zu sein, so eine- Wut. Manchmal auch Gleichgültigkeit. Gegen alles und jeden. Bis dann- zwischen uns alles intensiver wurde. Manchmal lagen wir zusammen im Bett oder am Strand oder auf der Wiese eines Festivals und- dir ging es einfach gut. Du warst wirklich glücklich. Da war auf einmal keine Wut mehr und das war so wunderschön anzusehen, dass ich jede Sekunde eines jeden Tages versucht hab dir dieses Gefühl zu geben. Meistens war es schwer für dich das anzunehmen, aber- jedes Mal hat es dir geholfen. Dieses Bild von uns-" Nickend deutete ich auf das Graffiti. "Das spiegelt das alles wider und ich denke deshalb hast du das gemalt, wenn es dir schlecht ging. Ganz am Anfang, als wir uns kennen gelernt haben, da hast du mir gesagt, dass du nicht weißt, wo du hingehörst. Dass du dich in New York nicht mehr heimisch fühlst, aber dass du auch nicht weißt, wo du sonst hingehen sollst. Und ich hab dir gesagt, dass dieses Gefühl von Heimat für dich nicht an einen Ort gebunden ist, sondern an Personen. Du fühlst dich dort heimisch, wo du glücklich bist, und ich glaube das Bild von uns, das hat dir das Gefühl von Heimat gegeben, nach dem du so lange gesucht hast. Wir waren Heimat füreinander. Familie. Mit dir fühlt es sich so an, als wäre ich angekommen, da wo ich sein will. Und andersrum genauso. Du bist vielleicht verloren in dieser Welt und da wird auch immer eine gewisse Wut in dir sein und du wirst dich selber noch ganz oft an deine Grenzen bringen und daran beinah verzweifeln, aber- wenn wir zusammen sind, dann ist alles besser. Unsere Beziehung war wie ein verrückter kleiner Ruhepol in deinem riesigen Chaos."
MATTHEW NICHOLAS DAWSON # 39 YEARS OLD # HIPPIE PUNK
![[Bild: matt04.png]](https://i.postimg.cc/g2W8p0zz/matt04.png)
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