RE: MIAMI
Ich schüttelte nur immer wieder monoton den Kopf über die Fragen von Jamie, die ich gar nicht alle auf einmal beantworten konnte. In den letzten zwei Monaten hatte ich es zwar geschafft diese Informationen für mich selber zu verarbeiten und wurde durch so eine energische Konfrontation nicht mehr aus der Fassung gebracht, aber mit jemand anderem darüber zu reden war noch einmal eine ganz andere Sache. Das machte es noch ein bisschen realer. Gleichzeitig ging es mir aber überhaupt nicht darum ihr von all den Dingen zu erzählen, die ich vergessen hatte, deshalb war ich nicht hier. Ich wollte nicht über meinen verstorbenen Vater, meinen gewalttätigen Stiefvater oder meine Mutter reden, die von ihm in den Tod geprügelt wurde. Ich wollte nicht über Chas reden, darüber dass er uns in ebendieser Nacht einfach in einer fremden Stadt ausgesetzt hatte, und ich wollte ihr auch nicht von Haily erzählen. Die Muschel, die ich noch immer bei mir trug, war unwichtig, ebenso wie diese absurde Verbindung zu meiner Zwillingsschwester. Dieses unsichtbare Band, nach dem auch Jamie sich jetzt erkundigte. Darum ging es überhaupt nicht und deshalb beantwortete ich auch nur eine von all ihren Fragen, während sie sich neben mir auf das Bett setzte. "Nein, ich bin Gus. Nenn mich weiterhin Gus, nicht William." Erst danach sah ich dem dunkelhaarigen Mädchen neben mir wieder in die Augen und lächelte sie sogar ganz schwach, kaum merklich, an. "Ich wollte nicht mehr Zeit mit ihnen verbringen und ich hab auch nicht viel Zeit mit ihnen verbracht. Nur ein paar Stunden. Ich hab mir alles erzählen lassen, was ich nicht mehr wusste, und dann bin ich einfach durch das Land gereist, so wie ich es immer mache. Bis nach Alaska. Da war ich vor zwei Wochen auch noch. Ich glaube die Reise war unheimlich wichtig, um das alles zu verarbeiten, Alaska hat sich dann auch angefühlt, als hätte ich sowas wie ein Ziel erreicht. Als wäre ich angekommen. Aber- von Alaska kann man nicht weiterreisen, nur zurück, also musste ich mir Gedanken darüber machen wohin ich zurück will. Und deshalb bin ich hier." Ich wollte Jamie mit meiner Nähe nicht schon wieder überfordern und überhaupt, da gab es noch so viele Dinge in mir, die ich ihr erst sagen wollte, also blieb ich bewusst in Distanz zu ihr sitzen und wechselte mit dem Blick immer wieder zwischen ihren Augen und der Matratze zwischen uns. "Hör zu, was ich gemacht hab, das war scheiße. Dass ich schon wieder gegangen bin. Und vor allem wie ich gegangen bin. Ich war einfach- schon wieder überfordert von mir selber. Meine- körperliche Reaktion hat mir gezeigt, dass ich viel zu tief in etwas drin stecke, in dem ich gar nicht stecken wollte. Unterbewusst hab ich glaub ich gedacht, dass ich von meinem eigentlichen Weg abkomme, wenn ich jetzt wirklich so etwas wie Gefühle für dich entwickle und in einer Kurzschlussreaktion bin ich dann schon wieder abgehauen. Bevor es zu spät ist. Aber- dann hab ich meine Geschwister getroffen und auf einmal haben sich all die Dinge aufgeklärt, nach denen ich immer heimlich gesucht hab und ich dachte- eigentlich müsste etwas mit mir passieren. Eigentlich müsste ich mich endlich so fühlen, als wüsste ich wer ich bin. William, aus New York, mit einer Zwillingsschwester, einem großen Bruder und einer ziemlich- zerstörten Familie. Auf dieser Reise hab ich dann aber gemerkt, dass es überhaupt nicht darum geht wer man ist oder wo man herkommt, das ist alles unwichtig, sondern nur darum, wer man sein will. Und wohin man gehen möchte. Und- immer wenn ich mich gefragt hab, wer ich sein möchte, dann bin ich hier hängen geblieben, bei dir." Diesmal blieb mein Blick fest in ihren Augen hängen. "Ich glaube ich war nie- zufriedener, als in den paar Tagen mit dir zusammen, bei Matt und Madison im Haus, im Garten auf der Wiese, am Strand, unter den streunenden Hunden. Genau da will ich wieder sein."
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
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