MIAMI
Gut zwei Monate war es jetzt her, seitdem ich das Haus von Jamie verlassen und auch nicht mehr dorthin zurück gekehrt war. Zwei Monate, seitdem ich meine Schwester und kurze Zeit später auch meinen Bruder kennen gelernt hatte. Seit ich wusste, wer ich war und woher ich kam. Zwei Monate, in denen ich mich trotzdem verlorener fühlte, als jemals zuvor. Innerhalb meines gesamten Lebens, an das ich mich erinnern konnte - 19 Jahre lang - hatte mich diese eine Frage immer am meisten beschäftigt: Woher kam ich? Und wer war ich? Ich hatte immer geglaubt, dass dieses große Mysterium um mich sich endlich legen würde, wenn ich wusste, wer meine Eltern waren und was in den ersten vier Jahren meines Lebens geschehen war und umso schwerer war es auch jetzt zu merken, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Mein Name war William, ich kannte mein Geburtsdatum, wusste von meiner verstorbenen Mutter und meinem gewalttätigen Stiefvater. Ich kann Charles und Haily und ich hatte erfahren, weshalb ich in ein Kinderheim gesteckt wurde, aber ich hatte mich nie ferner von mir selber entfernt gefühlt, als in den letzten zwei Monaten.
Nach San Francisco hatte es mich diesmal tatsächlich in den Norden geführt, bis nach Seattle, von dort nach Vancouver, durch die Rocky Mountains bis nach Alaska war ich getrampt, immer weiter, halt- und ruhelos, weil selbst das Reisen auf einmal nicht mehr so war, wie ich es kennen gelernt hatte. Denn ja, eigentlich war ich auf meinen Reisen ständig auf der Suche gewesen. Ich gab es nicht gerne zu, aber diese unterschiedlichen Städte und Dörfer bedeuteten für mich vor allem eins: Ich wartete nur darauf, dass ich irgendwo einen Ort fand, der in mir eine Erinnerung hervorrief. Dass sich meine Wege mit einer Person kreuzten, die ich aus meiner vergessenen Kindheit kannte. Aber nachdem genau das passiert war, fühlte sich meine Existenz noch sinnloser an. Meine gesamte Wahrheit, die ich mir seit Jahren schon einredete, war nur an den Haaren herbeigezogen. Dass ich nicht bei meinen Eltern lebte hatte nichts mit mir zutun, nichts mit meiner Andersartigkeit. Es ging nicht darum, dass sie mich nicht lieben konnten. Die Wahrheit war, dass meine Mutter zu schwach und zu feige war einen Mann zu verlassen, der ungerecht mit ihr umging. Ebenso wie mein großer Bruder, der mich und meine Schwester lieber abschieben wollte, als für eine bessere Zukunft zu sorgen, indem er das Jugendamt einschaltete. Oder die Polizei. Das war die schmerzhafte Wahrheit und das war es auch, was ich zwei Monate lang versuchte zu verarbeiten. Bis ich in Alaska ankam.
Alaska fühlte sich an wie ein Endziel für mich. Von Fairbanks aus gab es keinen Weg mehr, der mich weiter führte, von dort ging es nur noch in die Wildnis. In die Berge und Wälder, abseits jeglicher Zivilisation, und so reizvoll das auch manchmal klang, ich war zu unerfahren, um mich dort durchschlagen zu können. Meine einzige Option also: Der Rückweg. Doch genau darin lag das Problem. Wo endete dieser Rückweg? Was würde jetzt passieren? Wie würde es jetzt weitergehen? Wonach sollte ich noch suchen? Was wollte ich überhaupt? Bisher hatte ich vielleicht nicht meine Identität gekannt, aber ich hatte immer Ziele gehabt. Visionen. Ich hatte meinem Leben einen Sinn gegeben und ich musste erst an diesen Punkt kommen, um zu merken, dass der Verlust dessen viel schwieriger zu füllen war, als die Frage nach meiner Identität. Es ging im Leben nicht darum, wer man war oder woher man kam, sondern darum, wer man sein wollte. Wie man sein wollte. So oft ich mir das in diesen zwei Monaten durch den Kopf gehen ließ, jedes Mal wieder landete ich gedanklich an einem bestimmten Punkt: Bei Jamie. Ich hatte die Person gemocht, die ich in ihrer Anwesenheit gewesen war. Ich hatte mich selten so sicher gefühlt wie in ihrer Nähe. Vielleicht war meine gesamte subjektive Weltanschauung falsch und vielleicht hatte ich in Wirklichkeit nie nach meiner Familie gesucht. Nicht nach den Personen, die ich meine biologischen Eltern oder Geschwister nennen konnte, sondern nach jemandem wie ihr. Nach jemandem, der mich so akzeptierte, wie ich war. Mehr als das. Der mich so mochte, wie ich war. Sie war der Grund, weshalb ich nach zwei Monaten den Rückweg einschlug und noch zwei Wochen später in der Stadt stand, die ich schon mehrmals versuchte hatte hinter mir zu lassen: In Los Angeles.
Obwohl ich hauptsächlich wegen Jamie hier war, musste ich mich doch zwei weitere Tage lang erst einmal motivieren, bevor ich vor dem Haus von Matt und Madison aufkreuzte, um dort an die Tür zu klopfen. Nur um zu erfahren, dass Jamie nicht mehr dort lebte. Ebenso wenig wie Madison. Natürlich erst, nachdem Matt mir beinah die Tür vor der Nase wieder zu geschlagen hätte, und ja, ich musste auch eine ordentliche Standpauke über mich ergehen lassen. Aber dann bat er mich trotzdem in das Haus hinein und erklärte mir in aller Ruhe, was seit meinem Verschwinden passiert war. Er redete von Jamies Mutter, von Madisons Unfall, dem Verlust ihrer Erinnerung, von den folgenden Wochen und dass sie vor einigen Tagen einfach gegangen sei. Er sagte mir, dass er mindestens einmal die Woche mit Jamie telefonierte, dass sie momentan mit ihrer Mutter und dem Freund ihrer Mutter in Miami lebte, aber dass sie planten Ende des Jahres nach Italien zu ziehen. In die Heimat von Jamies neuem Stiefvater. Matt sagte mir, dass seine Schwester sich erst an die neue Situation gewöhnen musste, aber dass es ihr gut ging. Zumindest behauptete sie das jedes Mal, wenn die beiden miteinander redeten. Ich mochte diesen Mann wirklich gerne, aber in dem Moment war ich mir nicht recht sicher, ob ich darüber lachen oder weinen sollte, dass er ihr das tatsächlich glaubte. Jamie konnte nicht glücklich sein, wenn man sie von den Leuten wegriss, bei denen sie zum ersten Mal in ihrem Leben so akzeptiert wurde, wie sie war. Wenn man sie stattdessen um die halbe Welt fliegen wollte. Wenn sie gezwungen wurde bei ihrer Mutter zu leben und ihrem Liebhaber, der eher so alt war wie sie selber. Das war nicht die Jamie, die ich kannte. Die Jamie, die ich kannte, hatte sich nirgends so heimisch gefühlt wie in diesem Haus, mit Matt und Madison um sich. Und wenn sie sich dazu entschieden hatte zu gehen, dann nur, weil sie ihrem Bruder nicht zur Last fallen wollte. Matt wollte mir zwar versichern, dass er seiner Schwester mehrmals klar gemacht hatte, dass sie keine Last für ihn war, aber je länger wir darüber redeten, desto unsicherer wurde er. Hatte er ihr das wirklich gesagt? Hatte er ihr nach Madisons Unfall genug Aufmerksamkeit geschenkt? Hatte er sie nicht noch dazu motiviert mit Lisa umzuziehen? Könnte sie daraus vielleicht die falschen Schlüsse ziehen? Oder was steckte dahinter? Warum hatte sie diesem Ort, an dem sie sich so wohl fühlte, den Rücken zugekehrt?
Während ich daneben saß rief Matt bei Jamie an, fragte sie ganz direkt und ohne Umschweife, ob es ihr gut ging und ob sie wirklich bei ihrer Mutter wohnen wollte oder ob sie nicht doch zurückkehren wollte. Er sagte ihr zwar nicht, dass ich gerade bei ihm saß, aber je länger die beiden miteinander redeten, desto zittriger wurde die Stimme von Jamie. Das merkten wir beide. Und wir beide warfen uns darüber auch immer wieder vielsagende Blicke zu. Sie beharrte zwar darauf, dass sie das alles genau so wollte wie es war, aber keiner von uns nahm ihr diese Worte noch ab. Matt versuchte aus seiner Schwester heraus zu bekommen, was wirklich los war, aber sie blockte alle weiteren Fragen ab und beendete stattdessen abrupt das Gespräch. Ab diesem Moment war uns beiden klar, dass irgendetwas dort nicht mit rechten Dingen zuging und wir beide entschieden, dass etwas getan werden musste. Während ich eher in Erwägung zog, dass Matt mal mit seiner Mutter sprechen musste, stand er jedoch auf, holte aus einer Porzellandose im Schrank einen Bündel Geldscheine und drückte ihn mir in die Hand. Die Ersparnisse von ihm und Madison. Dafür sollte ich in ein Flugzeug steigen und nach Florida fliegen. Geschockt sah ich ihm in die Augen, aber er war der Meinung, dass nur einer von uns beiden die Wahrheit aus Jamie herauskriegen könnte, wenn wir bei ihr wären. Und er konnte nicht gehen, weil er jede Minute eines jeden Tages darauf wartete, dass Madison zurückkehrte. Also nickte ich ergeben, ließ mir die aktuelle Adresse von Jamies Mutter und ihrem Partner geben und fuhr nach einer Nacht auf dem Sofa am nächsten Tag tatsächlich mit Matt zum Flughafen, um in die nächstmögliche Maschine zu steigen und einige Stunden später im viel zu heißen Miami das Flugzeug wieder zu verlassen. Mithilfe der Stadtbahnen und meiner eigenen Füße stand ich am frühen Abend des nächsten Tages vor besagtem kleinen Haus, in dem die Familie momentan leben sollte, außerhalb der großen Stadt, und drückte mit schwer schlagendem Herzen auf die Klingel.
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
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