RE: KRANKENHAUS
Obwohl die Zeit, die Madison und ich miteinander teilten, immer besonders war und obwohl ich mir dabei immer wieder wünschte das alles einfach noch einmal durchleben zu können, hatte man trotzdem nur eine begrenzte Anzahl an magischen Momenten. Momente, die man niemals vergessen würde. In denen es sich so anfühlte, als würde die Zeit auf einmal stehen bleiben. Als würde sich die Welt langsamer drehen. Als gäbe es nur uns beide und die Liebe, die wir füreinander empfanden. Das hier war einer dieser Momente. Wie ihre Stimme auf einmal ganz anders in meinem Ohr erklang. Wie ich beim Fahren in ihre Augen sah und durch die Dunkelheit das Glitzern darin erkennen konnte. Wie ich meinen Fuß vom Gaspedal nahm, als sie sich zu mir herüber beugte. Wie wir immer langsamer wurden, während sie meine Lippen mit ihren bedeckte. Ganz zärtlich. Es war nichts los auf der Straße, ich war bei vollem Bewusstsein, ich brachte uns nicht Gefahr - zumindest glaubte ich das, bis uns auf einmal ein reißendes, helles Licht durch den Rückspiegel blendete. Sekundenbruchteile vergingen, dann ertönte ein lauter Knall, ein harter Ruck durchzog unseren Bus, mein Oberkörper würde schmerzhaft gegen den Gurt gepresst. Ich versuchte noch schützend die Arme vor mein Gesicht zu halten, aber zu spät. Mein Kopf schlug auf dem Lenkrad auf und mit einem Mal war alles schwarz. Auf einmal existierte nichts mehr.
Das Erste, an das ich mich danach erinnerte, waren blaue, flackernde Lichter. Sanitäter, die meinen Oberkörper nach hinten drückten, die versuchten mit mir zu reden, aber wie in Trance sah ich direkt zur Seite, auf den Beifahrersitz. Da war niemand. "Madison", stieß ich keuchend aus, während ein fremder Mann mein Gesicht in seine Hände nahm und meinen Nacken abtastete. "Madison. Wo ist meine Frau?" Und dann verlor ich schon wieder mein Bewusstsein.
Bis ich im Krankenhaus erneut erwachte, in einem sterilen, weißen Bett, in einem ebenso hellen Raum. Ein stechender Schmerz ging von meiner Stirn aus, welcher mir die Erinnerung an das Geschehene nicht erleichterte, doch trotzdem versuchte ich angestrengt die Bilder in meinem Kopf zusammen zu setzten. Von Madisons wunderschönem Gesicht, dem blendenden Scheinwerfer, dann der Knall, die blauen Lichter und jetzt dieser weiße Raum, aber es brauchte ein paar Sekunden, bis ich den Zusammenhang verstand. Bis mir klar wurde, dass wir einen Unfall gehabt hatten. Wir. Madison. Madison! Ich sah um mich, von rechts nach links, mein Herz begann auf einmal zu rasen, panisch drückte ich all die Knöpfe, die sich in greifbarer Nähe zu meinem Bett befanden, bis eine ganz in weiß gekleidete Pflegerin hinein gestürzt kam und beruhigend nach meiner Hand griff, aber ich wollte mich nicht beruhigen. Verdammte Scheiße, ich wollte wissen, wo meine Frau war. "Mr. Dawson, Sie müssen sich ausruhen", versuchte sie es mit sanfter Stimme, drückte ihre Hände gegen meine Schultern, aber ich verlangte trotzdem immer wieder nach Madison. So lange, bis sie endlich mit mir redete. "Sie waren in einen Unfall verwickelt, Mr. Dawson. Es geht Ihnen gut, Sie haben nur ein paar oberflächliche Verletzungen und eine Gehirnerschütterung, wir behalten Sie zur Beobachtung eine Nacht hier. Ihre Frau-" Ich merkte, wie sich ihr Gesichtsausdruck änderte. "Ihre Frau wird gerade noch operiert, aber ich versichere Ihnen: Sie ist in den besten Händen." Mit den Worten gab sie mir eine Tablette gegen die Aufregung und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Es konnte doch nicht allzu schlimm sein, wenn sie mich anlächelte, oder? "Wir haben Ihre Familie angerufen, sie müssten jeden Moment hier sein." Ergeben und völlig erschöpft nickte ich, doch bekam nicht einmal mehr mit, wie sie den Raum verließ, weil mir schon wieder die Augen zu fielen.
Als ich letztendlich richtig wach wurde, dämmerte es bereits draußen vor dem Fenster, mein Kopf schmerzte nicht mehr ganz so sehr und neben meinem Bett saßen Kilian und Jamie. Besorgt und beängstigt. Aber kaum etwas konnte mich im Moment so sehr beruhigen wie die Anwesenheit von meinem besten Freund, denn ich kannte ihn und ich wusste, dass er keine Ruhe geben würde, bis er nicht alle Informationen bekam, die er kriegen konnte. Über Madison, über den Unfall. Alles, was ich wissen wollte. Wenn es sein musste, dann würde er sogar mitten in der Nacht das ganze Krankenhaus zusammen schreien und deshalb hatte ich kurz darauf tatsächlich die Antworten, die man mir bis jetzt geben konnte. Madison war nicht angeschnallt gewesen - dunkel erinnerte ich mich daran, wie sie sich in meine Richtung gelehnt hatte -, ihr Körper war durch den Aufprall durch die Frontscheibe geschleudert worden, auf die Straße. Ihr Hinterkopf hatte dabei die Scheibe getroffen, ihr Gehirn war angeschwollen, ihre Lungen kollabiert. Die inneren Verletzungen konnten bei der Operation alle behandelt werden, aber man hatte sie in ein künstliches Koma versetzt, um auch ihren Kopf heilen zu lassen. Ob sie Folgeschäden davon tragen würde, das wusste man erst, wenn sie wieder wach wurde, aber die Ärzte schienen zuversichtlich. Über den Unfall hingegen gab es kaum etwas zu erfahren. Ein anderes Auto sei mit erhöhter Geschwindigkeit in unseren Bus gerast, der andere Fahrer hatte Fahrerflucht begangen. Erst ein zufällig vorbeikommender LKW verständigte die Polizei und rief einen Krankenwagen. Keine Zeugen. Die Behörden versuchten zu ermitteln. Das war alles und danach blieb mir nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass meine Frau endlich ihre Augen öffnete und dass alles so wäre wie zuvor.
Doch vier Wochen lang passierte gar nichts. Die Ärzte hielten Madison für fünf Tage in einem künstlichen Koma, danach überließen sie die Entscheidung ihrem eigenen Körper. Man sagte mir von Anfang an, dass es vielleicht einen Tag dauern könnte, vielleicht auch mehrere Wochen oder Monate, bis sie die Augen aufschlug. Ich sollte aber nicht mit dem Schlimmsten rechnen, sondern positiv auf sie zugehen. Viel mit ihr reden, ihren Arm berühren, sie dadurch zurück ins Leben holen. Die Forschungen in der Medizin waren noch nicht weit genug, um eine sichere Aussage darüber zu treffen, wie viel eine Person im Koma von ihrem Umfeld mitbekam, aber die Pfleger motivierten mich immer wieder dazu ihr nah zu sein. Manchmal fragte ich mich, ob sie das nur taten, um Hoffnung in den Angehörigen zu wecken, aber trotzdem befolgte ich ihren Rat. Jeden Tag, wenn ich bei Madison war, dann redete ich mit ihr, als könnte sie mich hören. Anfangs kam das noch ganz steif über meine Lippen, weil ich durchgehend verbissen auf irgendeine Art von Reaktion hoffte, aber mittlerweile - so traurig das auch war - war ich mit der Situation vertraut. Ich schaffte es sogar neben ihrem Krankenbett dumme Witze zu reißen oder ihr in ironischer Höchstform Geschichten aus meinem Alltag zu erzählen, während ich durchgehend die dünne Haut auf ihrem Handrücken streichelte. Nach zwei Wochen hatte ich auch wieder angefangen zu arbeiten, selbst wenn ich dabei noch nicht ganz bei der Sache war und Kilian mich immer wieder liebevoll dazu ermahnen musste meinen Aufgaben nachzugehen.
Jamie lebte nicht mehr bei mir. Gut eine Woche nach dem Unfall sagte sie, dass es vermutlich für alle besser wäre, wenn sie doch mit Lisa ging. Nach allem, was geschehen war. Diese Entscheidung hätte mir beinah das Herz zerrissen, weil ich nicht wusste, wie ich es ohne sie aushalten sollte, aber- sie hatte doch Recht. Ich konnte ihr im Moment nicht die Beachtung schenken, die sie brauchte. Ich konnte nicht für sie da sein, wie sie es benötigte. Bei unserer Mutter bekam sie all das und deshalb nickte ich ergeben und ließ sie ein paar Tage später gehen. Damit war ich ganz allein in unserem familiären, vertrauten Haus, das plötzlich so unfassbar leer wirkte. Manchmal sogar so leer, dass ich nach der Arbeit mit zu Kilian nach Hause ging und mich dort auf sein Sofa legte oder ganz früh im Krankenhaus auftauchte, einen Stuhl dicht an Madisons Bett zog, meinen Kopf auf ihren Schoß legte und dort schlief.
Der Unfall konnte bis jetzt noch immer nicht aufgeklärt werden, man wusste von den Spuren im Metall, dass es sich um einen großen schwarzen Geländewagen handeln musste, aber wie viele gab es davon in Los Angeles? Die Suche war aussichtslos und obwohl die Behörden gerade meinen wütenden besten Freund immer wieder mit der Aussage vertrösteten, dass die Ermittlungen noch liefen, wussten wir insgeheim eigentlich, dass von diesen arroganten Polizisten-Arschlöchern keiner etwas tat, um den Kerl zu finden, der für den Unfall verantwortlich war. Vermutlich lag das auch daran, dass man in meinem Blut damals gesehen hatte, dass ich alkoholisiert gewesen war. Unter der Promillegrenze, aber trotzdem gaben mir die Behörden eine Mitschuld und verdrehten wohlmöglich die Augen darüber, dass ich jetzt so darauf besessen war den anderen Fahrer zu finden. Einer der Polizisten sagte mir sogar einmal provokativ, dass ich einfach die Finger vom Alkohol lassen sollte, betrunkene Fahrer bekämen immer das, was sie verdienten. Kilian hätte ihm daraufhin beinah all seine Zähne ausgeschlagen und hatte jetzt eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung am Hals.
Alles in allem stand mein Leben also völlig auf dem Kopf, aber auch wenn Madison nicht mit mir reden konnte, mich nicht ansehen konnte und überhaupt nicht auf meine Worte reagierte, fühlte ich mir bei ihr noch immer wohler, als sonst irgendwo. Ich konnte entspannen, wenn ich ihre Hand in meiner hielt, und deshalb ging ich auch heute ganz früh, direkt nach der Arbeit und nach einem ausgiebigen Frühstück mit Kilian, gegen 7 Uhr zum Krankenhaus, in ihr Zimmer, begrüßte sie wie jeden Tag mit einem Kuss auf ihre Stirn, streichelte durch ihre Haare und zog mir danach einen Stuhl neben ihr Bett. Sanft drückte ich ihre Hand mit meiner, legte meinen Kopf auf ihren Schoß und schloss die Augen.
MATTHEW NICHOLAS DAWSON # 39 YEARS OLD # HIPPIE PUNK
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