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JOE'S BAR
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Kilian Thomas Carter
THE MISTAKES OF MY YOUTH
Beiträge: 147
Registriert seit: Jun 2015
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RE: JOE'S BAR
Für mich waren die letzten Monate schleichend langsam vergangen, so wie es sich nunmal anfühlte, wenn jeder Tag von denselben ermüdenden Gedanken geprägt war. Ich konnte nicht mehr den Briefkasten im Flur öffnen, ohne die stille Hoffnung, dass ich jetzt doch endlich etwas von meiner Tochter darin finden würde, und die darauf folgende Enttäuschung, wenn dem nicht so war. Und jedes Mal, wenn mich jemand auf dem Handy anrief, setzte mein Herz einen Schlag aus, weil ich damit rechnete, dass Lahja sich endlich bei mir meldete. Auch nach sechs Monaten dachte ich noch ständig an sie. Aber natürlich hatte ich mir auch Aprils Rat zu Herzen genommen und versuchte mich darauf vorzubereiten, wie unser gemeinsames Leben weitergehen würde, wenn sie aus dem Gefängnis kam. Ich wollte diese Chance wirklich für einen Neuanfang nutzen, wollte mit ihr reden, alles auf den Tisch legen, was ich ihr jemals verschwiegen hatte. Eine Beziehung zu ihr aufbauen, in der ich sie nicht sofort von mir wies, wenn es schwierig wurde, und dafür auch dasselbe von ihr erwarten. Unzählige Male hatte ich in meinem Kopf unser Wiedersehen durchdacht, hatte mir vorgenommen ihr nicht mit Wut gegenüber zu treten, sondern mit Verständnis. Ich wollte nicht mehr derjenige sein, vor dessen Reaktion meine Tochter Angst haben musste, sondern endlich ein vertrauensvoller Vater, mit dem sie sprechen konnte. Über alles. Ich wollte alles gerade biegen, was zwischen uns falsch gelaufen war, und hoffte, dass diese monatelange Trennung voneinander denselben Wunsch auch in Lahja geweckt hatte. Doch egal wie oft ich auch versuchte dieses erste Treffen innerlich zu planen, vielleicht konnte man sich einfach nicht auf so etwas vorbereiten.
Ich war wie immer eine gute Stunde vor Ladenöffnung in der Kneipe, insbesondere wenn Matt am vorigen Abend gearbeitet hatte musste ich mich schließlich darauf einstellen, dass es noch einiges aufzuräumen und zu spülen gab. Nach so vielen Jahren ärgerte ich mich schon gar nicht mehr darüber, sondern stellte schonmal leise die Musik an und tat die Dinge, die noch anstanden - zumindest so lange, bis es mehrmals penetrant am Hintereingang klopfte. Verwirrt warf ich als Erstes einen Blick auf den Kalender, der hinter der Theke an der Wand hing, weil heute eigentlich kein Tag war, an dem wir Getränke geliefert bekamen und sonst niemand dort hinein kam, aber vielleicht hatte Matt außerplanmäßig etwas bestellt und mal wieder vergessen mir Bescheid zu sagen, das wäre ja nichts Neues. Oder vielleicht hatte sich auch einer unserer Stammgäste in der Zeit vertan und versuchte sich schon etwas eher einzuschleusen. Das waren zumindest die Optionen, die mir durch den Kopf gingen, als ich mir die Hände abtrocknete, das Handtuch über meine Schulter warf und zum Hintereingang lief, um die Tür zu öffnen. Doch ich hatte keine Sekunde in Erwägung gezogen, dass meine Tochter dort stehen würde, einfach so. Nach sechs Monaten, ohne einmal ihre Stimme zu hören oder ein geschriebenes Wort von ihr zu lesen. Ohne, dass sie sich ankündigte. Fast so, als wäre nie etwas passiert. Und genau das war eventuell ihr großer Fehler. Ich wollte so gerne anders reagieren und möglicherweise hätte ich das auch geschafft, wenn ich mich seelisch darauf hätte einstellen können sie zu sehen, aber so - auf diese Art - wurde ich von meinen Gefühlen vollkommen überrannt, als ich ihr nach so langer Zeit zum ersten Mal wieder in die Augen sah. Mein Herz raste, jegliche Muskeln in meinem Körper spannten sich innerhalb von Sekunden an, ein schwerer Druck legte sich auf meine Kehle und ich konnte gar nichts anderes tun, als sie mit vor Schock geweiteten Augen starr anzusehen. Ich versuchte wirklich diese Emotionen in mir unter Kontrolle zu bringen, ich gab wirklich alles, um mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich mir für uns und unsere Beziehung zueinander vorgenommen hatte, aber ich schaffte es einfach nicht. Stattdessen senkte ich meinen Kopf, weil die Wut und Enttäuschung viel zu tief saß. Ich konnte meiner eigenen Tochter gerade nicht einmal in die Augen sehen, weil ich mir sicher war, dass irgendetwas in meiner Nähe zu Bruch gehen würde, wenn ich mich noch eine Sekunde länger ihrem Blick aussetzte, der mir innerhalb der letzten sechs Monate so fremd geworden war.
KILIAN THOMAS CARTER # 40 YEARS OLD # JOE'S BAR
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30.06.2015 00:00 |
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