RE: PSYCHIATRIE
Einige Wochen waren bereits vergangen, seitdem Nele versucht hatte sich selber das Leben zu nehmen, und demnach auch einige Wochen, in denen ich sie nicht ein Mal gesehen hatte. Noch immer versuchte ich verbissen ihre Eltern zu kontaktieren, rief gnadenlos regelmäßig bei ihnen an und fragte, wie es ihr ging, wo sie war und wann ich endlich mit ihr sprechen konnte. Oft nahm ihre Familie gar nicht mehr ab, wenn sie meine Nummer auf dem Display lasen, und wenn sie es doch taten, dann folgten nur wüste Beschimpfungen und Vorwürfe, weil sie mir noch immer die Schuld an allem gaben, was passiert war. Ich konnte es ihnen nicht verübeln, ich sah die Schuld darin schließlich auch noch in mir selber und in meinem Verhalten ihr gegenüber, aber wenigstens hatte ich in den letzten Wochen gelernt damit zu leben. Ich trainierte wieder mit meinen Jugendlichen, arbeitete zuverlässig im Zentrum, nahm auch das Training mit Lahja wieder auf und kümmerte mich um mein Studium. Eigentlich verlief mein Leben wieder in geregelten Bahnen, aber innerlich fühlte sich das alles noch an, als wäre es erst gestern geschehen. Die Sorge um Nele war alltäglich und jedes Mal, wenn ich angerufen wurde, blieb mein Herz für einen kurzen Moment stehen. Weil ich Angst davor hatte, dass sich jemand bei mir meldete, um mir zu sagen, dass sie erneut versucht hatte sich das Leben zu nehmen. Diesmal erfolgreich. Es war absurd, schließlich war mir unterbewusst schon klar, dass irgendjemand auf sie achten würde - entweder ihre Eltern oder sie war in einer Klinik oder zumindest in Behandlung bei einem Therapeuten - aber ich fühlte mich nicht sicher, solange ich nicht mit eigenen Augen sehen konnte, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging.
Neles Eltern hatten zwar versucht ihre Tochter von einem Tag auf den Nächsten komplett aus meinem Leben zu reißen, indem sie unter anderem auch all ihre Sachen aus unserer gemeinsamen Wohnung räumen ließen und mir im selben Zug auch sagten, dass sie von jetzt an keine Miete mehr zahlen würden - was im Umkehrschluss hieß, dass ich die Wohnung kündigen musste, weil ich allein niemals in der Lage wäre die Kosten zu stemmen - aber obwohl sie damit so penibel gewesen waren, hatten sie wohl eine Sache vergessen. Vor ein paar Stunden, als ich morgens den Briefkasten geöffnet hatte, lag ein Brief darin, adressiert an Nele, den ich sofort aufriss. Das war zwar nichts Ungewöhnliches, ein paar Briefe waren in den vergangenen Wochen noch für sie gekommen, hauptsächlich Werbung, aber das hier war anders. Das sah so wichtig aus. Und als ich den Zettel aufklappte stellte ich fest, dass es das auch war. Die monatliche Abrechnung einer psychiatrischen Klinik, etwas außerhalb des Stadtzentrums hier in Los Angeles. Mein Herz begann zu rasen, während ich mir diese Zeilen immer und immer wieder durchlas, und dann nahm ich kurzerhand mein Handy aus der Tasche, um alle eigentlichen Verpflichtungen für den heutigen Tag abzusagen. Stattdessen fuhr ich direkt dorthin, ohne genau zu wissen, was mich dort erwarten würde oder ob Nele überhaupt bereit wäre mit mir zu sprechen, aber es war doch meine einzige Chance. Mein einziger Anhaltspunkt. Es brauchte etwa eine geschlagene Stunde in diversen Bussen, bis ich vor einem großen Gebäudekomplex ausstieg und durch eine ordentlich gepflegte Grünanlage auf den Eingangsbereich zuging, wo ich direkt von einer freundlichen, aber etwas überarbeiteten Dame begrüßt wurde. In knappen Worten schilderte ich ihr meine Situation oder besser gesagt, nur den Teil davon, der mich in einem guten Licht dastehen ließ. Ich stellte mich als Freund einer Patientin vor und sagte der Dame, dass ich sie besuchen wollte, ganz so einfach war das hier aber natürlich nicht. Da war ich drauf eingestellt. Sie sagte mir, dass ich nicht auf der Besuchsliste stände, aber dass ein Pfleger Nele fragen würde, ob sie mich trotzdem empfangen wollte, wie nochmal mein Name sei. Einfach aus der Panik heraus schnell den Namen einer männlichen Person zu finden, die sie bestimmt gerne sehen würde, nannte ich den Vornamen ihres Vaters und wartete danach mit verschränkten Armen an einer Wand gelehnt, dass sich etwas tat. Etwa zehn Minuten später kam ein junger Pfleger lächelnd auf mich zu, sprach mich in dem Namen von Neles Vater an und sagte mir, dass sie sich freuen würde mich zu sehen. Wahrscheinlich würde das nicht lange anhalten, auch darauf war ich eingestellt, aber verdammt, ich musste mich doch wenigstens kurz vergewissern, dass es ihr- irgendwie gut ging. Wenigstens das, wenn ihre Eltern sogar darüber schwiegen und während unserer Telefonate nicht einmal bereit waren mir die Sorgen zu nehmen. Durch ein paar Gänge hindurch führte der Mann mich zu einer Tür, die nur schwach angelehnt war, klopfte dagegen und streckte seinen Kopf in den Raum hinein. "Nele, dein Besuch ist da. Viel Spaß", sagte er in einer freundlichen Singstimme und ich war mehr als froh, dass er sich sofort wieder umdrehte und den Gang hinunter lief, bevor sie mich überhaupt gesehen hatte und dadurch feststellen konnte, dass ich nicht der war, für den sie mich hielt. Deshalb wagte ich mich auch erst zwei Schritte in den Raum hinein, als er um eine Ecke gebogen war. Das verschaffte mir mehr Zeit mit ihr. "Bitte-", war das Erste, was ich zu ihr sagte, mit entschuldigend erhobenen Händen. "Lass mich bitte mit dir reden und schick mich nicht sofort wieder weg."
ZACHARY WILLIAM COLES # 28 YEARS OLD # STRAIGHT EDGE
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