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JUGENDZENTRUM
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Noah Scott
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RE: JUGENDZENTRUM
Nach diesen intensiven Besuchen und Gesprächen bei Lahja im Gefängnis fiel es mir tatsächlich unfassbar schwer wieder die Distanz zu ihr zu wahren und nicht ihre neu gewonnene Freiheit mit ihr gemeinsam zu erleben, aber was blieb mir anderes übrig, als ihre Wünsche zu respektieren? Ich konnte es ja verstehen und auf eine gewisse Art auch wertschätzen, dass sie erst einmal selber versuchen musste mit dem Leben klar zu kommen, das sich ihr außerhalb ihrer Zelle bot. Eigentlich war es ja auch das, was ich immer gewollt hatte. Dass sie sich nicht an mich band aus Angst vor Einsamkeit oder einfach um jemanden zu haben, der für sie da war, sondern dass es dabei um mich als Person ging. Ich war zwar noch immer so unfassbar verliebt in sie, aber ich wollte eine Beziehung nicht nur darauf aufbauen, dass ich der angenehmste Weg für sie war. Ich wollte, dass sie mich auch wollte. Nicht nur mein offenes Ohr oder meinen Körper zum Anlehnen. Und wahrscheinlich würde sich genau das zeigen, wenn sie erst einmal eine Perspektive für sich geschaffen hatte, wenn mit Kilian alles wieder in Ordnung war und wenn sie selber die Chance gehabt hatte für sich herauszufinden, worauf sie eigentlich wirklich wert legte. Und so lange harrte ich eben in San Francisco aus, telefonierte nur ab und zu mit ihr und lebte dort das Leben, das ich mir innerhalb der letzten Monate aufgebaut hatte. Ich spielte noch immer wöchentlich meine Gigs in einer kleinen Kneipe, hatte sogar eine lokale Hardcore-Band gefunden, mit der ich einfach Spaß auf der Bühne haben konnte, und ging sonst auf die Straße, um dort meine Musik zu spielen. Ich fühlte mich in meiner WG wohl, mit meinen Freunden und mit der Stadt selber sowieso. Ich bereute es kein einziges Mal, dass ich New York hinter mir gelassen hatte, und gerade das war unheimlich wichtig, damit ich Lahja nicht irgendwann ungerechtfertigte Vorwürfe machen würde.
Aber obwohl mein Leben gut war und ich mich glücklich schätzen konnte, sie behielt trotzdem weiterhin einen besonderen Platz in meinem Herzen und deshalb redete ich auch ohne zu Zögern die halbe Nacht mit ihr, als sie mich vor zwei Tagen auf einmal betrunken angerufen hatte. Ich kam ihrem Wunsch nach und erzählte ihr einfach ein paar lustige Geschichten von gemeinsamen Freunden aus New York, redete von Dingen, die mir beim Musizieren auf der Straße passiert waren, oder von den ersten Auftritten mit meiner neuen Band. Ich erzählte ihr einfach so lange irgendwelche amüsanten Stories - ohne sie überhaupt zu fragen, was genau eigentlich los war -, bis sie sich beruhigt hatte und wir in den frühen Morgenstunden wieder auflegten. Genau deswegen fand ich aber natürlich auch keine Ruhe. Ich hatte keine Ahnung, warum es ihr wieder so schlecht ging und weshalb sie so kurz davor stand ihren guten Willen zu brechen. Deshalb stieg ich zwei Tage später in einen Bus, fuhr von San Francisco nach Los Angeles, und weil ich unauffällig per SMS am Morgen schon gefragt hatte wie heute ihr Tag aussehen würde, wusste ich auch, dass sie am frühen Abend noch arbeiten musste. Von dem Jugendzentrum, in dem sie jobbte, hatte sie mir schon ein paar Mal berichtet, es war also nicht schwer den Weg dorthin zu finden. Als ich hinein kam sah ich Lahja direkt hinter der Theke stehen, mir den Rücken zugewandt, aber trotzdem zog sich sofort ein Lächeln über meine Lippen. So leise wie möglich bewegte ich mich näher auf sie zu, stellte meinen Rucksack und meinen Gitarrenkoffer vorsichtig auf dem Boden ab und lehnte dann meinen Oberkörper über die Theke, die Ellenbogen darauf abgestützt. "Ein Bier bitte. Und zwar so schnell wie möglich", sprach ich aus, nachdem ich mit einem Räuspern auf mich aufmerksam gemacht hatte, musste aber vorher schon lächeln, weil das doch eigentlich absolut gar nicht meine Art war.
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09.08.2015 13:36 |
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RE: JUGENDZENTRUM - Noah Scott - 09.08.2015 13:36
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