INDUSTRIEGEBIET
Aiden war schwächer in dieser Nacht, als sonst, viel schwächer. Er besaß keine Drogen mehr, mit denen er künstlich die schwermütigen, depressiven Gefühle zum Schweigen bringen und die Endorphine anregen konnte, nichts gab ihm die fehlende Gleichgültigkeit, den Egoismus, den er gerade in einem so verletzlichen Moment wie diesem dringend benötigte. Er war auf sich alleine gestellt, er war sich selber und der Realität völlig ausgeliefert, und das verlangte ihm mehr ab, als er noch vor wenigen Stunden geglaubt hätte. Die Stadt war wie ausgestorben, jeder verbrachte den Abend mit seinen Liebsten: Mit dem Partner oder der Partnerin, mit der Familie, mit Kindern, Freunden oder auch einfach nur mit einer Flasche Schnaps, aber nicht einmal das gab sein Portemonnaie gerade her. Er hatte nichts, was ihm die Einsamkeit nehmen könnte, die er hier oben auf der ausgestorbenen Fabrikhalle in der Kälte nur noch deutlicher spürte. An dem Ort, den er mit so vielen Erinnerungen verband, an eine Zeit in seinem Leben, die er nie wieder zurück bekommen würde. Wie viel seitdem geschehen war, wie sehr sich alles verändert hatte. Und doch gar nichts. Sein Herz war noch immer so dunkel wie damals, als er mit Lucy genau hier gesessen und ihr gesagt hatte, dass er noch nicht dazu bereit war jemanden zu lieben, weil er sich zu sehr vor den Folgen und vor den Verletzungen fürchtete. Aber dann hatte er es doch getan. Und diese Liebe hatte ihm unheimlich viel genommen, aber gleichermaßen auch umso mehr gegeben, dass er es nicht wagte diese Entscheidung zu bereuen. Es war richtig gewesen sein Herz zu öffnen, um jemand anderen dort hinein zu lassen, das galt für Lucy und auch für Haily. Es war gut diese Erinnerungen zu haben. Vielleicht war das sogar das einzige, was ihn jetzt noch daran hinderte vollkommen den Verstand zu verlieren.
Stundenlang saß Aiden in dieser Nacht dort auf dem Dach, stundenlang sah er dabei in den Himmel, schwelgte in Erinnerungen an die Liebe, die man ihm entgegen gebracht hatte, und ließ zu, dass dieser Bilder in seinem Kopf ihm das Herz erwärmten. So lange, bis es langsam begann zu dämmern, bis die ersten Sonnenstrahlen sichtbar wurden und er, gedanklich völlig abwesend, auf einmal die Bewegung neben ihm wahrnahm. Von Haily. Er spürte ihre Nähe in seinem ganzen Körper, er starrte ihr dabei ratlos, unsicher, überfordert und doch wortlos in ihr Gesicht, aber diesmal wich er nicht vor ihr zurück. Diesmal schob er sie nicht Beiseite, entzog sich ihrer Berührung und ließ sie hier allein. Nicht weil er es nicht wollte - alles in ihm schrie danach, dass er diese Vertrautheit und diese Zuneigung nicht zulassen durfte - aber er konnte einfach nicht. Er konnte nicht anders, als langsam den Arm zu heben, ihn vorsichtig um ihren Körper zu schließen und ihren Kopf an seiner Schulter zu akzeptieren. Weil es sich so gut anfühlte, so richtig. Weil es ein bisschen von dem Schmerz nahm, den er jetzt schon so lange aushielt. Weil Haily für ihn noch immer wie eine Droge war. In den letzten zwei Jahren war es Aiden daher leichter gefallen von ihr fern zu bleiben, weil er nicht einmal die Chance gehabt hatte sich wieder in ihr zu verlieren, ohne zu wissen, wo auf dieser gottverdammten Welt sie sich gerade befand, aber seit ihrem Erscheinen hier, seitdem er sie auf der Straße vor seiner Wohnung barfuß abgefangen hatte, war jeder Tag eine einzige Tortur. Er hatte fast ununterbrochen auf Alternativ-Drogen zurückgreifen müssen, um diesem Verlangen nach ihr nicht nachzugeben, aber jetzt gerade, in diesem unheimlich schwachen, verletzlichen Moment, da konnte er nichts gegen seine eigenen Sehnsüchte tun. Er verlor sich einfach in Haily. Er verlor sich in ihrem Geruch, in ihrer Wärme, ihrer Liebe - die sie ununterbrochen und immer ausstrahlte -, ebenso wie er sich in den Worten verlor, die sie schweigend auf die Rückseite eines seiner Briefe schrieb. Noch während sie die Buchstaben dort notierte las er einige Zeilen mit, doch irgendwann war ihr friedliches Gesicht so anziehend, dass er stattdessen den Kopf ein wenig hob und an ihren makellosen, wunderschönen Zügen hängen blieb. An ihrem schönen, femininen, liebenswerten Konturen, an ihren großen, neugierigen Augen, ihren Lippen, den leicht rötlichen Wangen. Und dort hing er auch immer noch, als sie den Stift niederlegte, als sie sich neben ihm ein wenig aufrichtete und eine Kerze anzündete. Aiden wagte nicht zu fragen, weshalb sie das tat, die Stille war viel zu friedlich, und verstand es daher auch erst, als er behutsam den Zettel in seine Finger nahm und las, was Haily gerade nicht bereit war auszusprechen.
Sein Herz begann zu zittern, so fühlte es sich zumindest an, sein Körper wurde ganz schwach und kraftlos, während er die Zeilen überflog. Einmal. Und dann noch einmal. Und nochmal. Bis er den Kopf wieder hob, um in ihr Gesicht zu sehen, um mit seinen Augen über ihre Haut zu streicheln. "Du fehlst mir, Haily", flüsterte er ganz leise, gedämpft die ersten Worte, die er je auf einem Blatt Papier für sie notiert hatte. Und es war so unsagbar befreiend auszusprechen, was er seit seinem letzten Brief für sie jeden verdammten Tag in sich gehalten hatte, dass es sich so anfühlte, als könnte er zum ersten Mal seitdem wieder frei atmen. Die Stimme in ihm, die Vernunft, die sich gegen all das wehrte und die ihm sagte er solle sich von Haily fern halten, die wurde mit jedem tiefen Atemzug immer leiser und immer nichtiger. Er wurde sie nicht ganz los, er würde sie wohlmöglich niemals ganz los werden, aber an diesem Morgen, da war sein Herz so viel lauter, als sein Kopf. "Du fehlst mir. Jeden Tag. Und ich- ich brauche dich. Mehr, als du glaubst." Als Aiden die Hand hob, als er seine Finger um ihre legte und sie fest mit seinen drückte, da fühlte sich das an wie der beste Drogenrausch seines Lebens. Und die Glückshormone, die dabei in seinem Körper ausgestoßen wurden, machten es sogar in Ordnung seine Schwächen zuzugeben, wenn auch noch immer mit gedämpfter, bebender Stimme. "Ich hab nichts mehr, ich hab alles verloren, ich hab mich verloren, ich hab dich verloren und ich- ich sitze hier jetzt schon seit Stunden und überlege, wo ich hingehen kann, wie ich weiter machen kann, wie ich das alles irgendwie wieder hinkriege, aber- da ist nichts. Ich weiß es nicht. Und ich will so gerne bei dir sein, ich will das wirklich, weil- Als du bei mir warst, als ich dich endlich wieder berühren konnte, vor ein paar Tagen, da hab ich mich zum ersten Mal wieder lebendig gefühlt." Damit bewies Aiden ihr dann auch, mit einem kurzen entschuldigenden Blick auf den Boden, dass sie sehr wohl Recht gehabt hatte mit ihrer erschrockenen Feststellung auf der Straße vor seiner Wohnung. Er war gerade nicht lebendig. Er fühlte sich nicht lebendig. "Aber ich tue immer wieder Dinge, die dich verletzen. Und ich werde auch immer wieder Dinge tun, die dich verletzen. Deshalb- versuche ich stark zu sein und ich versuche dich zu schützen, vor mir, aber ich kann nicht mehr stark sein. Ich schaff das nicht mehr, ich kann dich nicht mehr ständig von mir weg schieben, also- bitte- entweder hilf mir dabei, halt dich von mir fern und- lass einfach los oder- oder sag mir, dass es okay ist. Sag mir, dass es in Ordnung ist verletzt zu werden. Dass es nicht meine Schuld war, was Chris dir angetan hat. Dass du mir vergibst, was ich Chris angetan hab. Vor deinen Augen. Vor den Augen seiner Tochter. Sag mir, dass ich nichts in dir kaputt machen kann, Haily. Bitte. Egal wie oft ich dich noch verletze, wie oft ich dir unfaire Vorwürfe mache, dich allein lasse oder dich nicht so behandle wie du es verdient hast. Sag mir, dass das alles okay ist. Oder steh jetzt auf und geh einfach. Weil- ich das gerade nicht kann." Aiden sah so unsicher, so hilflos in ihr Gesicht, aber er konnte auch nicht verhindern, dass sein Körper sich dabei sehnsüchtig zu ihr lehnte, so nah, dass er mit seinen Lippen ihre Schulter berührte.
AIDEN RUTHERFORD # 28 YEARS OLD # HARDCORE
![[Bild: aiden04.png]](https://i.postimg.cc/15YrZSg4/aiden04.png)
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