RE: JOE'S BAR
Kilian war bekannt dafür, dass er in den schrecklichen Zeiten seines Lebens eigenhändig immer alles nur noch schlimmer machte, nicht unbedingt gewollt, aber Enttäuschungen führten zu Wut und Wut zu Destruktion. Mehrmals schon hatte er sich dadurch an die Grenzen der Belastbarkeit getrieben, hatte selbstzerstörerisch sein eigenes Leben aus Spiel gesetzt, und an demselben Punkt war er auch vor zwei Jahren wieder gewesen. Und das, obwohl es doch eigentlich kurz davor so aussah als würde endlich alles in geordneten Bahnen verlaufen. Als könne er sich zurücklehnen und genießen, dass es ihm und seiner Familie gerade verdammt gut ging. Lahja war felsenfest davon überzeugt bald ihre Ausbildung zu beginnen, Matt und Madison hatten wieder zueinander gefunden und mit April und ihm, da ging es auch stetig voran. Die Kneipe lief, er hatte ein Dach über dem Kopf und Menschen, die sich um ihn sorgten. Eigentlich war alles irgendwie ganz schön in Ordnung bei ihm, aber eines führte zum anderen und nur wenige Wochen später stand er dann dort, mit einem leeren Zimmer in seinem Haus, weil Lahja nach einer Auseinandersetzung tatsächlich wieder das Weite gesucht hatte und erneut in eine Wohngemeinschaft gezogen war. Über ein paar Wochen hatten die beiden keinen oder wenn dann nur sehr spärlichen Kontakt, was sich wiederum natürlich in der Stimmung ihres Vaters niederschlug und diese ließ er dann an jedem aus, der ihm in die Quere kam, unter anderem auch an April und was sich eigentlich gerade so gut entwickelte, wurde wieder zunehmend anstrengender. Kilian empfand das nicht als sonderlich schlimm, für ihn gehörte es dazu, dass es mal gute und mal schlechte Zeiten gab, das hier änderte nichts an seinen Gefühlen für die Frau an seiner Seite, aber ihr schien das anders zu gehen. Sie wollte sich nicht mehr von ihrem Freund so herablassend behandeln lassen, sie wollte sich nicht seinen Launen aussetzen und das, was zwischen ihnen doch schon lange kaputt war, wurde jetzt nur mehr zerstört. Immer wieder geriet das junge Paar aneinander, immer wieder trieb Kilian April an ihre Grenzen, doch als er spürte, dass sie sich tatsächlich emotional weiter und weiter von ihm distanzierte, handelte er mal wieder völlig falsch. Kilian glaubte, dass er seine Beziehung retten könnte, indem er seiner Freundin bewies wie sehr er sie liebte, er wollte ihr Sicherheit geben und Zuneigung, und machte ihr daher unerwartet und ebenso unpassend während einer Auseinandersetzung einen Heiratsantrag. Einfach so. Er meinte das ernst, er wollte April wirklich heiraten, er wollte für immer mit ihr zusammen sein, aber dass sie zögerlich vor ihm zurück wich und dass sie den Kopf schüttelte, das konnte er nicht differenziert betrachten. Er konnte nicht verstehen, dass sie damit nicht ihn als Person ablehnte, grundsätzlich, sondern einfach diesen mehr als schlecht gewählten Zeitpunkt. Diese Beziehung, die gerade sowieso nur am seidenen Faden hing. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, doch Kilian sah selbstverständlich nur die ihm entgegengebrachte Ablehnung. Wütend, traurig, enttäuscht und verletzt ließ er April stehen, ohne ein weiteres Wort, und beging daraufhin den wohlmöglich folgenschwersten Fehler seines Lebens. Betrunken und völlig neben ich stehend traf er auf Madison, eins kam zum anderen, und die Liebe, die er so dringend von April gebraucht hätte, suchte er sich in dieser Nacht bei der Frau seines besten Freundes. Das war dann tatsächlich der Punkt, an dem sein Leben mal wieder gänzlich in sich zusammenbrach. Seinen Fehler vor April einzugestehen, die daraufhin endgültig alles hinwarf und ihrem Freund zurecht sagte, dass sie ihn nie wiedersehen wollte, war schon schlimm genug, aber sich dann auch noch Matt zu stellen und ihm zu sagen, was er getan hatte? Seinem besten Freund, der schon seit der gemeinsamen Jugend immer an seiner Seite stand? Derjenige, der eigentlich jetzt für ihn da sein müsste, wo April ihn verlassen hatte, um ihn aufzufangen? Das war noch einmal eine ganz neue Art von Verlust, dessen Ausmaße ihm erst in den folgenden Tagen so recht klar wurden, denn nicht nur Matt wandte sich daraufhin von ihm ab und verließ die Stadt, sondern auch seine Tochter, die mitansehen musste wie ihre kleine Patchwork-Familie gerade gänzlich in sich zusammen brach. Nichts war mehr wie zuvor, Kilian stand auf einmal ganz alleine dort, ohne seine wichtigsten Bezugspersonen, ohne Unterstützung und ohne Hilfe, mit der Last der Kneipe ganz allein auf seinem Rücken.
Die ersten Wochen waren selbstverständlich eine einzige Katastrophe, er trank mal wieder zu viel und er griff auch nicht nur einmal auf aufputschende Drogen zurück, um überhaupt die Nacht zu überstehen, aber ebendieses Pflichtgefühl war es dann auch, das ihn gewissermaßen vor der totalen Selbstzerstörung rettete. Er konnte nicht zulassen, dass das, was er gemeinsam mit seinem besten Freund aus dem Nichts aufgebaut hatte, jetzt scheiterte. Das war seine Existenz, seine Lebensgrundlage, er brauchte die Arbeit, die Ablenkung, er brauchte seine Kunden, vor allem die, die jetzt schon seit Jahren immer wieder hierher kamen. Das war doch alles, was ihm jetzt noch blieb, und als dann auch noch Lahja anrief, als die beiden sich am Telefon endlich wieder miteinander versöhnten und sie ihrem Vater sogar gut zusprach, da hing er sich völlig rein in seinen Job. Er suchte sich studentische Aushilfen, er renovierte sogar eigenhändig einen Teil der Innenausstattung und stand selber jede verdammte Nacht hinter der Theke. Er arbeitete so viel wie selten zuvor, aber die Verantwortung, die er gegenüber seinem Job und auch gegenüber seiner Tochter hatte, die half ihm dabei nicht die Fassung zu verlieren. Und die sorgte dafür, dass er auch zwei Jahre später noch immer hier stand, in seiner Kneipe, und gewissenhaft jede Nacht den Alkohol ausschenkte. Jetzt gerade und mit allem, was ihm zugestoßen war, fühlte er sich hier mehr Zuhause denn je, zwischen seinen jahrelangen Stammkunden, den verzweifelten Seelen, und obwohl er sich zwar ziemlich von seinem sozialen Umfeld zurückgezogen hatte, hatte Kilian sein Leben fest im Griff.
An diesem heutigen Abend war es schon so spät geworden, dass er gerade dabei war sein Arbeitsumfeld aufzuräumen, nur ein älterer Mann, den er schon lange kannte, und ein mittelaltes Paar befanden sich noch hier im Raum, die Kilian aber auch in absehbarer Zeit vor die Tür setzen wollte. Er war müde, seine Knochen taten ihm weh, und als auf einmal jemand hinein kam, drehte er sich daher auch schon herum, um laut zu verkünden, dass er nichts mehr ausschenken würde, aber dazu kam er gar nicht, weil das junge Mädchen ihm sofort ins Wort fiel. Und weil er erschrocken an ihren leicht bläulichen Lippen und ihrem viel zu spärlich bekleideten Körper hängen blieb. Und dann auch an ihren Worten, denn die junge Frau war anscheinend eine Bekannte von Lahja? Mit schief gelegtem Kopf, leicht gerunzelter Stirn sah er sie an, doch weil er ebenso wie das Mädchen den Blick des älteren Mannes neben ihr bemerkte, griff er als Erstes nach seinem leeren Bierglas und stellte es, ohne neu aufzufüllen, in die Spüle. "Wir sind fertig für heute, hm? Geh nah Hause, Clark, sie ist sowieso außerhalb deiner Liga", sprach er dunkel aus, mit einem langen, vielsagenden Blick, ehe er dann doch wieder die junge Frau fixierte. "Die Kneipe gehört auch immer noch ihrem Dad, das bin ich. Kilian. Kann ich dir irgendwie behilflich sein? Was möchtest du von Lahja?"
KILIAN THOMAS CARTER # 40 YEARS OLD # JOE'S BAR
![[Bild: kilian02.png]](https://i.postimg.cc/nVNqdkNQ/kilian02.png)
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