MOUNT GLEASON
Madison ahnte es selber vermutlich nicht einmal, aber mit ihrer Reaktion - mit dieser beglückwünschenden Umarmung - setzte sie etwas bei Matt in Gang, auf das er sonst wohlmöglich noch lange hätte warten müssen: Sie zeigte ihm, auf ganz selbstverständliche Art, dass diese Vaterschaft nicht nur Schlechtes beinhaltete. Natürlich hatten auch Summer, die unweigerlich durch Chas alles mitbekam, und Haily, vor der Matt die ganzen Bücher gar nicht geheim halten konnte, ihm immer gut zugeredet und ihn dazu motiviert seinen möglichen Sohn in San Francisco aufzusuchen und mit ihm zu sprechen, aber bei Madison- bei ihr hatte das so viel mehr Wert. Matt konnte gar nicht sagen weshalb, er liebte Summer wie eine Schwester und auch Haily nahm einen so besonderen Stellenwert in ihrem Leben ein, aber vielleicht hatte er genau das hier gebraucht. Madisons Zustimmung. Ihre Motivation. Vielleicht hatte er es einfach nicht gewagt diesen letzten Schritt zu gehen, weil eine Vaterschaft immer etwas gewesen war, das er nur mit ihr an seiner Seite visualisieren konnte. Etwas, das ihnen gemeinsam genommen wurde, als man seiner Frau sagen musste, dass ihr Körper nicht dazu imstande war Kinder in die Welt zu setzen. Möglicherweise hatte es sich einfach nicht richtig für Matt angefühlt diesen Weg ohne sie gehen zu müssen, vielleicht fühlte er sich ohne sie nicht bereit dazu, nicht stark genug, nicht erwachsen genug, aber als seine Frau ihn jetzt fest, warm, ehrlich in die Arme schloss, als sie ihn beglückwünschte und ihm damit das Gefühl gab, dass sie keine Sekunde an seinen Fähigkeiten zweifelte, da fühlte es sich zum ersten Mal sogar ein wenig gut an, was ihn dort erwartete. Zum ersten Mal fühlte er sich selber reif genug, um diese Verantwortung anzunehmen, und als sie kurz darauf aufstand, um sich von ihm zu verabschieden, da ließ Matt es sich nicht nehmen sie noch einmal liebevoll zu umarmen. Länger als üblich hielt er sie an sich, er bewegte seine Hand einmal langsam über ihren Rücken, für einen Moment überlegte er sogar, ob es eine Option wäre sie einfach nicht wieder loszulassen, aber als er es dann doch tat und als die Blicke der beiden sich erneut für einen kurzen Moment trafen, da spürte er auch, dass da noch immer etwas wie eine Mauer zwischen ihnen stand. Er war einfach noch nicht so weit. Ihre Nähe hatte Matt gut getan, ebenso wie ihre Entschuldigung, sie hatte ihm mit ihrem Zuspruch unheimlich geholfen und er war ihr schrecklich dankbar, dass sie genau in diesem Moment gekommen war, um ihn zu motivieren, aber er war noch nicht so weit ihr zu verzeihen. Das würde noch mehr Zeit in Anspruch nehmen und obwohl es sich so anfühlte als würde sein Herz noch einmal zerreißen, als Madison aus Matts Blickfeld verschwand und er feststellte, dass er keine Ahnung hatte, wann die beiden sich erneut über den Weg laufen würde, hielt er auch umso mehr an ihren Worten fest: Auch wenn sie nicht zusammen waren, die Erinnerung aneinander würde ihnen beiden immer helfen. Diese Liebe, die sie beide geteilt hatten, war etwas Einmaliges und es war für Matt ein absurd beruhigendes Gefühl zu wissen, dass auch sie sich wieder an alles erinnerte. Dass auch sie ihn genauso bedeutsam in Erinnerung hielt wie er das mit ihr tat. Dass auf einmal wieder alles in ihr war, was sie gemeinsam erlebt hatten.
Dennoch sprang Matt nicht sofort am nächsten Tag auf, um nach San Francisco zu fahren, sondern ließ sich Zeit, bis er sich wirklich bereit dafür fühlte. Vielleicht war ein paar Tage vor Weihnachten auch einfach noch nicht der richtige Zeitpunkt, um diesem jungen Mann zu sagen, dass er sein Vater war. Was, wenn er nicht einmal von seinen leiblichen Eltern wusste? Wenn er glaubte seine Adoptiv-Eltern wären tatsächlich seine wahren Eltern? Wollte Matt ihm diese Illusion nehmen? Sollte er erst seine Adoptiv-Eltern ausfindig machen und mit ihnen sprechen? Vielleicht- ja, vielleicht fühlte sich aber auch einfach irgendetwas noch nicht richtig an. Vielleicht fehlte da etwas, von dem Matt noch nicht sagen konnte, was es war, ehe er bei seinem Sprössling vorstellig wurde. Vielleicht fehlte ihm die nötige Unterstützung. Jemanden, der ihn auffangen konnte, wenn sein Junge ihn nicht sehen und nicht mit ihm reden wollte. Matt hatte zwar unheimlich viele Freunde, einen riesigen sozialen Kreis, aber gerade jetzt, wo er sich wieder in Los Angeles befand, spürte er auch mehr als deutlich, dass die Dinge nicht mehr so waren wie sonst immer. Er vermisste etwas: Nicht nur Madison, seine Frau, die er mehr als alles andere geliebt hatte, sondern auch Kilian, seinen bester Freund. Ihm fehlte sein gewohntes Umfeld. Die zwei Personen, die immer - wirklich immer - für ihn da gewesen waren. Gerade in der jetzigen Zeit, während alle in besinnliche Weihnachtsstimmung verfielen, wurde ihm das ganz deutlich. Matt traf sich zwar mit Jamie und Troy, um gemeinsam Plätzchen zu backen, er dekorierte mit Haily das ganze Haus und trank mit Summer nicht nur einmal eine - oder fünf - Tassen Glühwein, aber dennoch fühlte er sich immer wieder einsam. Dennoch erinnerte er sich immer wieder an die Anti-Weihnachts-Veranstaltungen mit Kilian aus seiner Jugend oder an die vielen Feiertage, die er so oft gemeinsam mit seinem besten Freund und Lahja verbracht hatte, und dann auch an die Zeit mit Madison. Daran wie schön es gewesen war bei ihr zu sein. Dass er gespürt hatte wie sie seine kleine Familie endlich komplettierte. Diese Beziehung, die die beiden führten, war alles für ihn gewesen und gerade in einer Zeit wie dieser, in der ihm die Familienzugehörigkeit sowieso abhanden gekommen war, fühlte es sich für Matt falsch an seinen Sohn kennenzulernen.
Also vertagte er diese Entscheidung aufs neue Jahr, hatte sich sogar schon in seinem imaginären Kalender ein Wochenende dick markiert und traf bereits die nötigen Vorkehrungen, indem er die Karte in seinem Bus platzierte und weiterhin ständig in seinen Vaterschafts-Büchern las. Eigentlich hatte er auch Weihnachten so voll gestopft, dass er gar keine Möglichkeit haben würde Madison und Kilian zu vermissen: An Heiligabend wollte er, wie immer, lange schlafen. Danach, gegen Nachmittag, hatte er dann Jamie zugesagt, dass er sie und Troy besuchen würde. Sie wollten zu dritt gemeinsam kochen und dann auch zusammen essen, aber weil Matt wusste, dass Heiligabend für die beiden auch ihr 1-jähriges Jubiläum markierte, nahm er sich vor relativ früh das Weite zu suchen und den beiden den restlichen Abend zu überlassen. Er hingegen, er wollte dann zurück in das Haus gehen, wo Haily eine riesige, verrückte, bunte Weihnachtszelebration plante und sich dort so abschießen, dass er auch am ersten Weihnachtstag sicher nicht vor 15 Uhr aus dem Bett kam. Den Tag würde er dann auch noch nutzen, um sich mit Summer zu treffen und mit Lahja, die beiden bedeuteten ebenfalls ein haltloses Besäufnis, und wenn er am zweiten Weihnachtstag dann nicht komatös im Bett lag, dann würde er diesen Tag mit vielen seiner Freunde verbringen, die jedes Jahr den letzten Tag traditionell am Strand feierten. Mit einem mehr schlecht als recht geschmückten Weihnachtsbaum und viel Bier. Rund um die Uhr Ablenkung also, genau das, was Matt jetzt wollte und brauchte, doch letztendlich kam doch alles ganz anders, als geplant.
Er hatte sich gerade erst vor gut einer Stunde ins Bett gequält, gegen 2 Uhr in der Nacht vor Heiligabend, als penetrant sein Handy begann zu klingeln. Matt war viel zu müde, um überhaupt auf den Bildschirm zu sehen, drückte nur grummelig den Anruf weg, doch als beim dritten Versuch auch Haily neben ihm wach wurde und genervt gegen seine Schulter drückte, richtete er sich dann doch verschlafen im Bett auf und nahm das Telefonat, nach einem kurzen Blick auf das Display, an. Ian? Warum um Himmels willen sollte Ian ihn mitten in der Nacht anrufen? Gut, mit der Zeitverschiebung müsste es in New York etwa halb sieben morgens sein, aber trotzdem? Wie mechanisch kämpfte Matt sich auf die Beine, während er seinen Namen in den Hörer sprach, und lief auf leisen Sohlen aus dem Zimmer heraus, damit Haily nicht von dem Gespräch gestört wurde. Zum Glück, anscheinend, denn die Aufregung in der Stimme von Madisons Bruder war kaum zu überhören. Die genauen Hintergründe verstand Matt nicht, aber anscheinend hatte Ian kurz zuvor mit seiner Schwester telefoniert - oder eine SMS von ihr bekommen -, die besagte, dass sie am morgigen Tag Los Angeles wieder verlassen und nach New York kommen wollte, um dort den Jahreswechsel mit ihrem Bruder und ihren Eltern zu verbringen. Das war doch eine schöne Geste, dachte Matt, aber noch ehe er das aussprechen konnte, begann Ian ihm auf einmal Vorwürfe zu machen. Warum kannst du ihr nicht endlich verzeihen, Matt? Warum kannst du nicht für sie da sein? Sie braucht dich jetzt. Sie hat keine Zeit mehr, sie braucht deine Hilfe. Er hätte all seine Hoffnungen in Matt gelegt, sagte Ian, während dieser jedoch noch immer nicht verstand, worum es überhaupt ging und weshalb er sich jetzt rechtfertigen musste, für einen Fehler, den Madison begangen hatte, nicht er. Doch auch das konnte er gar nicht aussprechen, ehe der Bruder seiner ehemaligen Frau ihm schon wieder ins Wort fiel und aussprach, was Matt nie wieder vergessen sollte. Sie stirbt. Sie hat Krebs und sie stirbt, wenn sie nicht dagegen kämpft. Ich dachte du kannst sie noch umstimmen, ich dachte du bist für sie da, wenn sie dich braucht, aber das bist du nicht. Wenn du ihr jetzt nicht verzeihst, dann wirst du nie wieder die Chance bekommen das zutun. Matt hatte Ian noch nie so außer sich erlebt, so laut und wütend und vor allem verletzt wie jetzt, bei diesem Telefonat. Und trotzdem gelang es ihm nicht einmal auf seine Worte zu reagieren. Sprachlos, geschockt und auf einmal hellwach ließ er sich nur auf die kalte Treppe sinken, setzte sich auf eine der Stufen und starrte leer in die Luft vor sich. "Sie hat mir nichts davon gesagt", nuschelte Matt nach einer gefühlten Ewigkeit - und nach weiteren Vorwürfen von Ian - leise in den Hörer. "Ich wusste nicht, dass-" Doch da versagte seine Stimme wieder und erneut war es der Junge am anderen Ende der Leitung, der die Stille füllte. Matt nahm ihm seine Wut nicht übel, er verstand, dass er sie nicht gegen ihn richtete, sondern viel mehr gegen die gesamte Situation, gegen alles, aber Matt nutzte diesen Redeschwall auch, um weitere Informationen zu erfragen. Er wollte wissen was genau Madison hatte, seit wann sie davon wusste und was sie dagegen tun wollte. Er fragte wie lang man ihr noch zu leben gab und als der Bruder von ihr sich langsam wieder ein wenig beruhigt hatte, versprach Matt ihm auch, dass er mit Madison reden wollte. Er konnte zwar noch nicht deuten, was genau gerade in ihm vorging und wie er damit umgehen wollte, aber als er das Telefonat mitten in der Nacht wieder beendete, da blieb er noch lange dort auf der Treppe sitzen, um seine Gedanken zu ordnen. Um zu verstehen, weshalb sein Herz auf einmal so raste und warum ihm beinah die Luft zum Atmen weg blieb. Er liebte diese Frau, er liebte sie so sehr, noch immer, aber könnte zwischen ihnen überhaupt jemals alles wieder gut werden? War das überhaupt möglich? Wollte er das? Er fand darauf zwar in diesem Moment noch keine Antworten, aber nachdem er viel zu lange darüber nachgedacht hatte, stand er auf einmal urplötzlich auf und lief in Hailys Zimmer, um dort seine Kleidung zusammen zu raffen. Eilig stieg er in seine Jeans, zog sich Socken und Schuhe an, schnappte sich ein T-Shirt, einen Pullover und dann auch noch die Schlüssel seines alten Busses, bevor er wieder hinaus ging. Egal wie lange er hier saß und darüber nachdachte, er würde auf diese Fragen alleine keine Antwort finden. Es gab nur eines, was er jetzt gerade tun wollte, und das war mit Madison zu reden. Für sie da zu sein. Zu erfragen, weshalb sie das alles vor ihm verschwiegen hatte. Und weil Matt genau wusste, wo sie sich am frühen Morgen des Heiligabend herumtrieb - so wie jedes Jahr, das sie mit ihm in Los Angeles verbracht hatte - fuhr er mitten in der Nacht, nach nur einer Stunde Schlaf, aus der Stadt heraus, zu einem Parkplatz mitten im Wald, von wo aus man in einer zwei- bis dreistündigen Wanderung die Spitze des Mount Gleason erreichen konnte. Jedes Jahr hatte sie diese Wanderung alleine auf sich genommen, war mitten in der Nacht aufgebrochen, um dort den Sonnenaufgang zu beobachten, und jedes Jahr hatte Matt grummelig abgelehnt sie zu begleiten. Er hatte sich immer wieder über ihre Wanderungen belustigt, über ihre Selbstfindungstrips, aber als er in diesem Jahr auf den Parkplatz fuhr und als er dort tatsächlich den Bus von Madison stehen sah, zögerte Matt keine Sekunde. Nur mit einer Flasche Wasser unter dem Arm und mit der Taschenlampe seines Handys in der Hand lief er entschlossen los, auf dem schmalen, sandigen Pfad, immer weiter, stundenlang, bis er endlich - nachdem er mehrmals beinah einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte - dort ankam, wo er hin wollte. An der Spitze. Dort, wo Madison auf einem abgebrochenen Baumstumpf saß und erwartungsvoll in den Horizont sah, auf den Sonnenaufgang wartend. Es gab so viel, was er ihr hatte sagen wollen. So vieles, was ihm auf dem Weg hierher durch den Kopf gegangen war, aber als er jetzt auf sie zuging, als sie ihn bemerkte und die Blicke der beiden sich trafen, kam kein Wort aus seinem Mund. Für ein paar zehrend lange Sekunden stand er nur dort, starrte Madison an und schüttelte schlussendlich ganz langsam den Kopf. "Du hättest es mir sagen sollen, Madison", hörte er sich selber irgendwann leise aussprechen und auch wenn seine Worte nicht viel hergaben, erkannte man in seinen Augen doch einiges.
MATTHEW NICHOLAS DAWSON # 39 YEARS OLD # HIPPIE PUNK
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