RE: AIDEN
Aiden kannte das Gefühl eingesperrt zu sein. Er wusste wie es war die eigene körperliche Freiheit einzubüßen, nachdem er den Großteil seiner Jugend in einer gefängnisähnlichen Einrichtung für junge Straftäter verbringen musste, und doch lernte er vor zwei Jahren die Hölle noch einmal ganz neu kennen. Es waren nicht nur die Gitter, die ihn jetzt belasteten. Nicht nur der ewig gleiche Tagesablauf, die festen Strukturen. Nicht nur der kalte Entzug von seinem sonst so regelmäßigen Alkohol- und Drogenkonsum und auch nicht die Art wie Wärter, Anwälte und Therapeuten mit ihm umgingen - wie mit einem Schwerverbrecher - als viel mehr die Distanz zu Haily, die ihm mehr und mehr zusetzte. Bevor die Wege der beiden sich auf so absurde Weise gekreuzt hatten, war er nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen. Wütend, kraftlos, zurückgezogen, voll Schmerz und Trauer über Lucy. Er war rücksichtslos gewesen damals, irgendeine seiner vielen Eskapaden hätte ihn ohne Zweifel auch direkt ins Gefängnis bringen können und es wäre ihm egal gewesen, aber jetzt? Jetzt, wo er Haily gerade gefunden hatte? Wo gerade wieder Leben in ihn zurückkehrte? Liebe? Es fühlte sich nicht richtig an hier zu sein, hinter Wänden aus Beton, die keiner von ihnen durchqueren konnte. Es fühlte sich nicht richtig an, dass er sie nicht sehen konnte. Dass er nicht wusste wie es ihr ging, wie sie aussah. Es fühlte sich nicht richtig an, dass er nicht mit ihr reden durfte.
Im Zuge seiner zwangsweise auferlegten Therapie hatte Aiden irgendwann begonnen Briefe an sie zu schreiben. Briefe, die er nicht abschicken konnte, weil er nicht wusste wo Haily gerade war und wann sie zurückkehren würde - oder ob sie das überhaupt tat - aber er fand in dem Schreiben eine Möglichkeit sich ihr mitzuteilen. Sich irgendjemandem mitzuteilen. Es gab doch sonst niemanden in seinem Leben mehr, der diese Funktion übernehmen könnte, nach und nach hatte er jeden von sich geschoben oder neue Bekanntschaften gar nicht erst an sich heran gelassen. Und hier im Gefängnis, da hielt er sich isoliert von den anderen. Es fühlte sich falsch an Kontakte zu knüpfen, er wollte sich nicht in die herrschenden Hierarchien eingliedern, weil er noch nicht bereit war sich mit seinem Schicksal abzufinden. Aiden war noch nicht bereit sich einzugestehen, dass er von jetzt an mehrere Jahre hier verbringen würde, in diesem Gebäude. Schwerverbrecher nannte man ihn hier. Mörder. Gewalttätig. Wiederholungstäter. War er das? War das von jetzt an ein Teil seiner Geschichte? Seines Charakters? War es an der Zeit einfach zu akzeptieren, dass in ihm etwas nicht richtig war? Dass er nicht in diese Welt passte? War das so?
Jedes Mal, wenn er an diesem Punkt war, dann weigerte er sich weiter zu denken, aus Angst vor der Realität. Solange er konnte, hielt Aiden nur an sich selber fest, mied die bereits bestehenden Gruppen und versuchte sich so unscheinbar und unauffällig wie möglich zu verhalten. Immer, wenn der Druck zu viel wurde, dann nahm er sich ein Blatt Papier, seinen Bleistift und schrieb Haily, all das, was ihm durch den Kopf ging, so lange, bis er auch das einfach nicht mehr konnte. Nachts verfolgten ihn die Bilder von ihrem weinenden, schluchzenden Gesicht, er sah sie wieder vor sich sitzen, im Besuchsraum dieser Justizvollzugsanstalt, er sah wie ihr Körper zitterte, dann wie sie auf ihn zustürzte, wie sie sich an ihn klammerte, an seinen Arm, wie sie ihn anflehte. Er hatte noch nie einen schrecklicheren Ton gehört, als das leise Wimmern dieser sonst so lebensfrohen, quirligen, aufgedrehten Person. Schweißgebadet wachte er manchmal auf, nach Atem ringend, keuchend, nur weil er schon wieder ihr dunkles, müdes Gesicht vor sich gesehen hatte. Und dann entschied er, für sich, dass er das nicht mehr konnte. Er konnte Hailys Welt nicht mehr länger mit sich in die Dunkelheit ziehen. Er konnte ihren fragilen Körper nicht mit all den Problemen belasten, die seine Seele über die Jahre so zerfressen hatten. Sie war nicht stark genug, um das durchzustehen, was Aiden durchstehen musste. Sie würde daran zerbrechen. Um ihr nicht das zu nehmen, was diese wunderbare junge Frau auszeichnete, hörte Aiden also auf ihr zu schreiben. All die bereits verfassten Briefe legte er in eine Kiste aus Metall und schob sie so weit unter seine Pritsche, dass er sie nicht jeden Tag sehen und dadurch auch nicht mehr jeden Tag an sie erinnert wurde. Er würde aus ihrem Leben verschwinden, endgültig, und das zog er auch so konsequent durch, dass er die Besuchsanfrage von Haily ablehnte, als sie nach mehreren Wochen wieder in der Stadt zu sein schien. Nicht nur einmal, sondern direkt mehrmals weigerte Aiden sich sie in Empfang zu nehmen und obwohl das wohl mit eine der schwersten Entscheidungen gewesen war sie so im Unklaren zu lassen, fühlte es sich am Ende des Tages doch richtig an. Nicht für ihn, aber für sie. Sie würde davon profitieren, irgendwann.
Vielleicht wäre das alles anders gekommen, wenn es Chas eher gelungen wäre Aiden von seiner Anklage zu befreien, aber wie er es seiner Schwester auch schon angekündigt hatte, gestaltete sich das äußerst schwierig. Das Geschehen hatte zu viel öffentliche Aufmerksamkeit erlangt, es gab zu viele Zeugen, es ging durch die Presse, durch die Zeitungen. Man konnte den Fall nicht urplötzlich wieder verschwinden lassen, die Aufruhr wäre zu groß, also zog es sich mehrere Wochen, dann sogar Monate, bis Chas endlich Erfolg verbuchen konnte. Die erste Verhandlung war zu dem Zeitpunkt schon durch, man hatte Aiden dreißig Jahre im Gefängnis auferlegt, wohingegen er mit seinem Anwalt in Berufung ging und dem Bruder von Haily endlich der entscheidende Schritt gelang, um auszuradieren, was ihm vorgeworfen wurde. Keiner wusste im Nachhinein so recht wie er das getan hatte, wen er dafür bestechen musste, wie viel Geld er hatte spielen lassen oder ob dabei jemand zu Schaden gekommen war, aber offiziell hieß es, dass wegen eines Fehlers in der Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft jegliche Anschuldigungen an Aiden fallen gelassen wurden. Von einem Tag auf den nächsten, nachdem er etwa ein halbes Jahr im Gefängnis hatte verbringen müssen und sich gerade damit abfand diesen Ort sein neues Zuhause zu nennen, öffnete man ihm auf einmal die Tür und sagte ihm er sei ein freier Mann.
Zu diesem Zeitpunkt hätte Aiden alles tun können und in der Euphorie darüber schmiedete er auch sofort Pläne für ein besseres, freieres Leben, ohne Drogen und Alkohol. Er nahm sich vor seine alte Band anzurufen, seinen Manager, sich bei ihnen für seine Eskapaden zu entschuldigen und einen neuen Versuch zu starten. Er wollte sich auch bei Haily melden, er wollte ihr sagen wie verliebt er in sie war, dass sie ihm fehlte und dass es ihm Leid tat, alles. Er musste das Beste aus diesem Leben machen, das er eigentlich für dreißig Jahre nicht hätte leben dürfen, doch ließ dabei gänzlich außer Acht wie dunkel und zermürbt seine Seele bereits war. Wie wenig Selbstdisziplin er besaß. Aiden war Aiden und als er entschied seine zweite Nacht in Freiheit ausgiebig zu feiern, zu dröhnender Techno-Musik, da gelang es ihm nicht das Koks abzulehnen, das ihm ein alter Bekannter anbot. Eine kleine Line würde ja nicht schaden, sagte er sich, doch aus einer kleinen Line wurde eine große. Dann noch eine. Und noch eine. Dann ein Glas Whiskey, um den bitteren Geschmack im Rachen loszuwerden. Und ein weiteres. Und ohne es wirklich zu wollen, kehrte er erst nach drei Tagen völlig übermüdet wieder nach Hause zurück, um sich dort in seinem eigenen Selbstmitleid zu suhlen. Jeder erneute Versuch sein Leben auf die Reihe zu bekommen scheiterte, immer wieder wurde er rückfällig, noch härter als je zuvor. Er konsumierte täglich, haltlos, er trank zu viel, er schlief mit unbedeutenden Frauen. Statt sich bei seiner alten, erfolgreichen Band zu melden und dadurch wieder einen richtigen Job auszuführen, der ihm zumindest sein Leben finanzieren könnte, kroch er stattdessen nach einigen Tagen zu seiner Garagen-Hardcore-Band zurück und ließ dort die Wut am Mikrofon heraus. Mehr und mehr Schulden häuften sich auf seinem Rücken an, doch Aiden war so in seinem Delirium gefangen, dass er keine Motivation aufbringen konnte etwas dagegen zu unternehmen. Lieber floh er, gemeinsam mit seinen Jungs, nach Europa, um dort kleine, lokale Shows zu spielen, zu feiern, zu eskalieren und noch mehr Geld auszugeben, das er eigentlich nicht besaß.
Auf diesem Trip war es dann auch, mitten in England, dass er eine alte Bekannte wieder traf, die sein Leben noch einmal völlig auf den Kopf stellte: Nele. Diese absolut unberechenbare Frau stand dort auf einmal vor ihm, erzählte ihm, dass sie hier bei ihren Eltern wohnte, dass sie gerade eine Therapie abgeschlossen hatte, aber die Worte, die aus ihrem Mund kamen, interessierten Aiden eigentlich gar nicht. Er hing nur an ihren Lippen, die er noch in allzu guter Erinnerung hatte, und drängte sie den ganzen Abend über immer wieder zu Drogen oder zu Alkohol, so lange, bis sie endlich schwach wurde. Er wusste wie falsch das war, natürlich wusste er das. Gerade jetzt. Nele sah so gut aus, so entspannt, ruhig sogar, aber für seine eigenen egoistischen Bedürfnisse brauchte und wollte er sie nicht so ausgeglichen. Er brauchte die unermüdliche Frau, die genauso lange feiern konnte wie er, er brauchte den tabu-losen Sex, ihre Schamlosigkeit. Aiden wusste noch immer nicht, was genau eigentlich gesundheitlich nicht richtig war mit ihr, aber dass Drogen und Alkohol darauf keinen positiven Einfluss nehmen würden, das konnte er sich wohl denken. Und dennoch, immer wieder ging er an diesem Abend auf sie zu, motivierte sie zu noch einem Shot, noch einer Line, trieb sie immer mehr an, bis sie dann tatsächlich in diesem abgeranzten Backstage-Raum eines winzigen Clubs endlich wieder miteinander schliefen. Dass dabei noch eine Hand voll anderer Leute im Raum war interessierte sie in ihrem Rausch beide nicht und weil Aiden wusste, dass er so eine durchgedrehte Frau wie sie nicht überall finden konnte, drängte er sie kurzerhand dazu einfach mit ihnen weiterzureisen. Anfangs war das nur ein ironischer Spaß gewesen, doch je länger er darüber nachdachte, desto eher gefiel ihm die Idee, und als er seinen Bandkollegen versprach, dass Nele nicht nur seine eigene Errungenschaft war, sondern sicher die Bedürfnisse aller gerne befriedigte, sprach sich auch niemand mehr gegen die neue Begleitung aus.
Die Tour durch Europa wurde dadurch zu einer einzigen Eskalation, bei der die Tage ineinander verschwammen. Aiden war kein einziges Mal wirklich nüchtern, immer befanden sich irgendwelche Drogen oder Alkohol rauschend in seinem Körper. Er schlief zu wenig, er feierte zu viel und als sie nach sechs Wochen am Flughafen ankamen, um von dort zurück in die USA zu reisen, sah er aus als wäre er in der Zeit um zehn Jahre gealtert. Er spürte die Last auf seinem Körper und eigentlich nahm er sich auch vor nach seiner Rückkehr erst einmal eine Woche zu schlafen und dann wieder einen etwas gesünderen Lebensstil zu verfolgen, aber wie immer hielten diese guten Vorsätze auch diesmal nicht lange an. Anstatt Nele zurück zu ihren Eltern zu schicken, willigte Aiden ein, dass sie mit ihnen nach Los Angeles fliegen konnte, und als sie dann dort ankamen, lehnte er auch nicht ab sie bei sich wohnen zu lassen. An so guten, schnellen Sex käme er doch so schnell nicht wieder. Und weil die junge Frau in ihrer Manie so absolut ruhelos und aufgedreht war, bekam er gerade mal einen einzigen Tag Schlaf, bevor Nele ihn erneut zum Feiern motivierte und ihn das Kokain schon wieder drei Tage wach hielt.
Seitdem waren jetzt erneut mehrere Wochen vergangen und schon wieder war es Aiden nicht gelungen sein Leben in geordnete Bahnen zu lenken. Rechnungen, die in seinen Briefkasten flatterten, wurden einfach zerrissen, die Miete war jetzt schon monatelang überfällig, sein Konto schrieb mehr und mehr rote Zahlen. Seine Wohnung, in der er noch immer mit Nele lebte, versank im Chaos. Unzählige leere Alkoholflaschen sammelten sich in der Küche, der Kühlschrank war gähnend leer. Immer mal wieder hingen sogenannte Freunde von ihm hier rum, zur Afterhour oder einfach nur, um gemeinsam zu konsumieren, die nur noch mehr Dreck hinterließen, aber Aiden hatte keine Motivation hinter ihnen her zu räumen. Er hatte für gar nichts mehr Motivation, eigentlich nicht einmal mehr zum Feiern, aber oft genug drängte Nele ihn so lange, bis er sich mit Koks den fehlenden Antrieb einfach zuführte. Was war ihm denn auch sonst noch geblieben, außer das? Außer die nie enden wollende Party? Da war doch nichts mehr. Das erste Mal seit Wochen, dass wieder so etwas wie Glanz in Aidens Augen zurückkehrte, war als Nele eines frühen abends nach Hause kam und ihn grummelig wissen ließ, dass eine verrückte blonde Frau sie soeben verfolgt hatte. Sie kam ihr bekannt vor, sagte Nele, irgendwo hatte sie diese Person schon einmal gesehen, doch während sie noch dabei war Haily oberflächlich zu umschreiben, hatte Aiden sich schon vom Sofa gequält und war aus der Tür hinaus gestürzt. Barfuß, ohne Jacke, ohne Schlüssel, denn für all diese eigentlich wichtigen Dinge war gerade kein Platz mehr in seinem Kopf gewesen. War Haily wirklich wieder hier? War sie es tatsächlich? Er war in den letzten Monaten zwei, drei Mal an ihrem Haus vorbei gegangen, traute sich aber nie dort hinein zu gehen, denn an seiner Einstellung hatte sich noch immer nichts geändert. Im Gegenteil. Gerade jetzt würde jeder auf den ersten Blick sehen können wie schlecht er für Haily wäre. Manchmal erkannte Aiden sich selber nicht im Spiegel wieder: Er hatte an Gewicht verloren, seine Wangen wirkten ganz schmal, die Augen groß und die Ränder darunter viel zu dunkel. Seine Haut war blass, fahl geworden, sein Bart schon seit mehreren Tagen nicht mehr ordentlich rasiert. Es war ein wirklich trauriges Abbild, das er abgab, und als er ohne Schuhe draußen auf den Asphalt lief, als er suchend um sich sah und dann tatsächlich mit den Augen an dieser schönen, für ihn so bedeutenden jungen Frau hängen blieb, da sah er auch wie sehr er sich von ihr unterschied. Haily sprühte wie immer vor Leben, ihre Wangen waren von der Dezemberkälte ein wenig rötlich, sie sah gut aus, lebensfroh, glücklich und Aiden spürte sofort, dass er ihr das nicht nehmen konnte. Er wollte ihr das nicht nehmen. Anstatt zuzulassen, dass der Blick in ihre Augen längst vergessene Emotionen in ihm weckte, zog er also stattdessen die Schultern an, er schluckte schwer und ging viel eher zögerlich ein paar Schritte auf sie zu. "Ich besitze eine Klingel. An der Tür. Die funktioniert auch", begann er mit dunkler Stimme. Könnte sie sehen wie eine Hände leicht bebten oder presste er sie fest genug vor seiner Brust ineinander? "Falls du etwas von mir willst, meine ich. Du könntest einfach klingeln. Und fragen."
AIDEN RUTHERFORD # 28 YEARS OLD # HARDCORE
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