RE: FAMILIE SMIRNOW
Noah verurteilte Bex nicht für all diese fälschlichen Zusammenhänge, die sie sich während der letzten Wochen und Monate in ihrem Kopf ausgemalt hatte, er war ja selber einmal in ihrer Position gewesen. Er hatte selber zu Beginn das alles infrage gestellt, was er jetzt lebte, und er hatte sich dieselben Gedanken gemacht, die sie sich jetzt machte. Sogar heute verstand er noch nicht, was einige seiner Freunde lebten, und auch heute noch zog er oft falsche Schlüsse, wenn er mit etwas Neuem konfrontiert wurde. Das war natürlich, das war selbstverständlich und letztendlich war das Leben auch ein einziger, langer Prozess, in dem man immer wieder etwas lernte. Er hatte sich nur vorgenommen, dass er mit den Jahren offener werden wollte gegenüber Fremdem und Unbekanntem, er wollte die Neugier beibehalten, die Akzeptanz und die Toleranz, anstatt sich von den gelebten Jahren einengen zu lassen. Er wollte bleiben wie ein Kind, unvoreingenommen und frei, und sich nicht wie ein Erwachsener an das halten, was gesellschaftlich den Normen und Traditionen entsprach.
"Du denkst zu viel darüber nach", klärte er Bex daher auch mit einem sanften Kopfschütteln auf, ehe auch er den Blick wieder auf ihre Hände senkte und beobachtete wie sich ihre Finger über seinen Handrücken bewegten. Wie gut sich das anfühlte. "Du hast zu viel von dem im Kopf, was dir als richtig beigebracht wurde, das macht alles nur- unnötig kompliziert." Das war kein Vorwurf, Noah lächelte auch erneut schwach, um ihr das zu zeigen, ehe er den Kopf ein wenig zur Seite neigte und versuchte in seinen Worten zu erklären, wie er fühlte und wie er lebte. "Für mich kann man das alles auf zwei wichtige Faktoren runter brechen: Erstens glaube ich, dass ein Mensch die Freiheit haben sollte alles zutun, was er tun möchte, wann immer er es tun möchte. Ich glaube, dass Freiheit das wichtigste ist, was ein Mensch braucht, um er selber sein zu können, gerade in der heutigen Zeit, und ich weigere mich dagegen etwas von dieser Freiheit aufzugeben. Nicht für den Staat, nicht für meine Familie und auch nicht für eine Beziehung. Zweitens ist auch Liebe für mich sehr simpel: Ich liebe Menschen, zu denen ich mich besonders hingezogen fühle - erstmal völlig unabhängig davon, ob diese Liebe freundschaftlich oder romantisch ist - und wenn ich jemanden liebe, dann ist mir nichts wichtiger, als dass es dieser Person gut geht. Dass sie glücklich ist. Ich möchte sie nicht einschränken, in ihren Gedanken, in ihrem Handeln oder in ihren Möglichkeiten, sondern ihr den Rücken stärken und ihr das Gefühl geben, dass es okay ist einfach- zu sein. Ich liebe diesen Menschen dafür, wer er ist und ich möchte daran nichts ändern, indem wir eine Verbindung zueinander eingehen, die auch auf Verboten aufbaut. Wenn ich in einer Beziehung bin und wenn meine Partnerin ihren Abend lieber mit jemand anderem verbringt, dann ist das so. Das ist in Ordnung. Manchmal ist mir die Nähe zu einer bestimmten Person wichtiger, als zu einer anderen Person, das ist nicht verwerflich und es bedeutet auch nicht, dass ich die andere Person weniger liebe, sondern dass ich einfach an dem Abend oder zu der Zeit etwas brauche, das sie mir nicht geben kann. Das ist aber okay, weil kein Mensch zu jeder Zeit alle Bedürfnisse eines anderen Menschen erfüllen kann oder erfüllen sollte. Wenn meine Partnerin ihren Geburtstag lieber mit jemand anderem verbringt ist das auch in Ordnung. Ein Geburtstag ist auch nur ein Tag wie jeder andere. Wenn ich spüre, dass das öfter vorkommt, dass sie die Distanz zu mir sucht und dass sie keine Freude mehr daran empfindet mit mir zusammen zu sein, dann frage ich sie, warum das so ist und wenn sie mir dann sagt, dass sie sich romantisch nicht mehr so zu mir hingezogen fühlt wie sie das mal getan hat, dann gebe ich ihr die Freiheit zu gehen und akzeptiere das, indem ich sie loslasse. Manchmal hält Liebe nicht auf Dauer, das ist nicht schlimm, manchmal - meistens - begleiten Personen einen nur für einen beschränkten Zeitraum, bevor die Wege sich wieder trennen, aber anstatt mit Wut oder Ärger darauf zurückzublicken und jemandem vorzuwerfen, dass unsere Beziehung zueinander sich verändert und die Liebe weniger wird, erfreue ich mich lieber daran, dass wir die Zeit zusammen hatten. Ich sehe darauf zurück und bin dankbar für die gemeinsamen Wochen, Monate oder sogar Jahre." Weil das alles aber doch sehr allgemein gesprochen war, hielt Noah kurz inne, um seine Gedanken zu ordnen und dann zu einer persönlicheren Antwort auszuholen.
"Ich kann mir auch vorstellen mit zwei Frauen zusammen zu sein, ja, und ich kann mir auch vorstellen zwei Frauen gleichzeitig zu lieben, aber ich hab in der Vergangenheit gemerkt, dass es mir nicht so leicht fällt in zwei Frauen gleichzeitig verliebt zu sein. Wenn ich verliebt bin, diese aufgeregte Verliebtheit, dann bin ich so auf diese eine Person fixiert, dass jemand anderes da gar keine Chance hat. Als ich noch mit Lahja zusammen war, da hab ich mich zwischendurch in jemand anderen verliebt und- das hat meine Liebe zu ihr zwar nicht geschmälert, aber meine Aufmerksamkeit für sie ist dadurch gesunken. Für mich, mit meinen Gefühlen und meinen Gedanken, ist das kein Problem so etwas zu akzeptieren. Es war in Ordnung für mich, als sie sich neu verliebt hat, ich hab mich für sie gefreut und fand es schön mitansehen zu können wie sie- wieder so geglänzt hat. Ihre Augen haben richtig geleuchtet und es ging ihr- wirklich gut. Auch wenn sie dadurch weniger Zeit für mich hatte. Für sie wiederum war das aber sehr schwierig, als es bei mir so war. Es hat sie unglücklich gemacht das zu spüren und zu sehen, sie hat mir viele Vorwürfe gemacht, wir haben uns oft gestritten und das war letztendlich auch der Ursprung dafür, dass wir uns getrennt haben. Weil unsere Gedanken und Gefühle so unterschiedlich sind und weil es einfach nicht möglich war das zu vereinen. Ich habe schon überlegt, ob ich vielleicht eher dafür gemacht bin nur mit einer Person zusammen zu sein und ob es mir leichter fällt nur einer Person meine volle Verliebtheit und Aufmerksamkeit zu schenken, aber wenn, dann möchte ich, dass das meine persönliche Entscheidung ist. Eine Entscheidung, die ich für mich treffe, für niemand anderen. Und das soll meine Partnerin auch nicht einschränken. Wenn sie trotzdem jemand anderen lieben kann, dann ist das schön, das ist gut und sie soll das dann auch tun, aber vielleicht- vielleicht bin ich einfach ein Mensch, der sich lieber auf eine einzige feste Beziehung stützt. Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Ich bin noch dabei das herauszufinden." Nachdenklich wog er den Kopf ein wenig zur Seite, ehe er fortfuhr.
"Aber ich finde übrigens schon, dass es einen großen Unterschied macht, ob man ein Paar ist oder nicht. Einfach- in mir selber. Wenn ich verliebt bin, dann- dreht sich alles in mir nur um diese Frau. Ich denke ständig an sie, ich will ständig bei ihr sein. Nichts ist mir wichtiger, als sie glücklich zu sehen. Es kribbelt im Körper und von ihr berührt zu werden, das ist wie- das ist alles. Nichts ist schöner. Freunde zu berühren oder mit Freunden zu schlafen ist ganz anders, als mit jemandem zu schlafen, in den man wirklich bis über beide Ohren verliebt ist. Und wenn diese Person das Gefühl dann noch erwidert, wenn man bereit ist zu sagen Wir lieben uns, so sehr, dass wir eine Partnerschaft eingehen, dann ist das noch einmal eine ganz andere Ebene. Man erwartet zwar nichts voneinander, aber gibt trotzdem unheimlich viel für den Partner. Man bemüht sich, verbringt viel Zeit zusammen, man öffnet sich, zeigt Zuneigung und teilt Hingabe. Eine Beziehung ist - für mich - immer etwas Besonderes." Noah wusste nicht recht, ob Bex das alles verstehen oder nachempfinden konnte und vor allem wusste er nicht, was sie mit ihrer abschließenden Frage bezwecken wollte - wohlmöglich versuchte sie nur ihm vor Augen zu führen, dass eine Beziehung zwischen ihnen sowieso keine Option war - aber er antwortete trotzdem besten Gewissens. "Ich weiß nicht, ob das zu dem passt, was du dir wünscht und vorstellst. Wahrscheinlich nicht. Und wahrscheinlich- wahrscheinlich hätte ich auch Angst davor, dass dasselbe passiert, was mit Lahja passiert ist - dass ich dich letztendlich nur verletze und verunsichere - aber leider lassen sich Gefühle nicht vom logischen Denken beeinflussen." Er lächelte ein wenig unsicher, sog tief die Luft in seine Lungen und akzeptierte in dem Atemzug auch, dass er nichts gegen seine Emotionen tun konnte. Auch wenn er schon ahnte, dass eine Beziehung mit Bex ebenso zum Scheitern verurteilt war wie die Beziehung mit Lahja. "Ich- war übrigens auch eifersüchtig. Auf Joker. Als ich euch gesehen hab. Eigentlich will ich das nicht, eigentlich finde ich Eifersucht schrecklich und versuche das einfach gar nicht zu fühlen, aber- ich kann es nicht leiden, wenn sich jemand, den ich mag, in destruktive Hände begibt. Das- damit kann ich nicht gut umgehen. Das war bei Lahja auch schon so und deshalb- deshalb bin ich auch so wütend geworden, als ich euch gesehen hab. Das war nicht richtig und das tut mir Leid, ich hätte nicht so negativ auf dich reagieren dürfen, das- Letztendlich bringt das niemanden weiter." Und letztendlich war Noah eben auch nur ein Mensch. Einer, der zwar eine ganz andere Weltanschauung hatte, als Bex, der anders fühlte und anders dachte, aber einer, der auch Fehler machen konnte, der launisch war und immer mal wieder seinen eigenen Prinzipien untreu wurde.
So wie sie auch. Denn das, was sie sagte und wie sie ihre Gefühlswelt beschrieb, das war eigentlich nicht damit vereinbar wie die beiden jetzt hier saßen, nah zusammen, in einem Bett, die Hände übereinander liegend. Nicht, wenn das hier für Bex absolut keine romantischen Gefühle hervorrief. Außer Noah war die Ausnahme von der Regel. Oder, vielleicht- vielleicht gab es da doch etwas in ihr, das über Freundschaft hinaus ging. Vielleicht wehrte sich ihr Kopf nur einfach dagegen, wegen Joker und weil die beiden so unterschiedlich waren, aber eigentlich- eigentlich waren in ihrem Herzen auch andere Gefühle nicht unmöglich. Noah wusste nicht, wo diese plötzliche Hoffnung auf einmal herkam, die er doch eigentlich schon längst zunichte gemacht hatte, aber er lauschte ihren Vorstellungen ganz anders, als er es sonst getan hätte. Er hörte ihr aufmerksam zu, speicherte sich alles ab, so als wäre das eine Option sie von sich zu überzeugen. Möglicherweise- Vielleicht musste er sich auch mehr bemühen. So wie Joker. Vielleicht musste er mehr investieren, sich mehr ins Zeug legen, und nicht so leicht aufgeben. Vielleicht musste er Bex zeigen, was er ihr geben konnte, was er für sie fühlte und wie aufrichtig und ehrlich eine Beziehung mit ihm wäre. Vielleicht- ja, vielleicht sollte er es einfach versuchen. Nicht jetzt, nicht während sie noch so in der Schwebe stand und während sie sich noch nicht einmal recht von Joker getrennt hatte, das würde nur mehr gegen ihre Prinzipien gehen und sie verwirren, aber- bald. In ein paar Wochen. Wenn Ruhe eingekehrt war. Wenn ihr Kopf und ihre Gefühle wieder freier waren. Vielleicht. Denn eines hatten die beiden doch gemeinsam und vielleicht war das wichtiger, als alles andere: Sie lebten für die Liebe. Für sie beide war eine Partnerschaft etwas unheimlich Wertvolles, etwas Besonderes und etwas Schönes. Und dass er Bex für keine ihrer Gedanken oder Gefühle verurteilte, dass zeigte Noah ihr auch, indem er seine Hand wieder leicht drehte und zart ihre Finger mit seinen umschloss. "Ich bin mir sicher, dass du deine große Liebesgeschichte finden wirst. Ganz bestimmt."
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