RE: FRIEDHOF
Eigentlich hatte ich das hier nie beabsichtigt: Vor dem Grab von Lahjas Mutter zu sitzen und über unsere Beziehung zu reden, über meine Fehler, und sie mit Entschuldigungen zu überhäufen. Weil ich nicht wollte, dass wir uns hier stritten, dass sie wütend wurde und eventuell sogar vor mir davon lief. Ich sah mich nicht im Recht dazu sie von diesem Ort zu vergraulen, nur weil sie mir fehlte und weil ich wusste, dass ich sie hier finden und vielleicht sogar mit ihr reden könnte, aber als die Stimme von Lahja nur noch brüchiger wurde und als sie mir nicht nur präsentierte wie viel Wut mein Seitensprung in ihr hervorrief, sondern auch wie sehr ich sie damit verletzt hatte und wie viele Selbstvorwürfe da erneut mit einher gingen, da konnte ich doch gar nicht anders. Ich konnte sie nicht in dem Glauben lassen, dass ihr Verhalten irgendetwas damit zutun hatte. "Das ist nicht deine Schuld, Lahja. Das war nicht dein Fehler, sondern meiner und du- hast nichts damit zutun. Du hast nichts falsch gemacht." Auch wenn sie vehement meinen Blicken auswich, versuchte ich trotzdem weiterhin ihr in die Augen zu sehen. "Weißt du wie mein Leben vor einem Jahr ausgesehen hat? Als wir uns noch nicht kannten? 7 Uhr: Aufstehen, anziehen, joggen, Frühstück besorgen. 8 Uhr: Nele wecken. Wenn es ihr einigermaßen gut ging, dann konnte ich sie vielleicht dazu motivieren in der Küche zu essen. Wenn nicht, habe ich ihr das Brot neben dem Bett abgestellt. Meistens hat sie mich angeschwiegen, dann war ich duschen und hab mich umgezogen. 9 Uhr: In die Uni. Da war ich dann bis zum Nachmittag. 15 Uhr: Nach Hause gehen, gucken wie es Nele geht. Meistens lag sie noch genauso in ihrem Bett wie morgens auch schon. 16 Uhr: Ins Jugendzentrum, zum Arbeiten. Und auch, um vor dieser schrecklichen, bedrückenden Stimmung zu fliehen, die Zuhause an der Tagesordnung war. 20 Uhr: Nochmal nach Hause, Abendessen kochen. 21 Uhr: Bloß wieder raus da, meistens zum Trainieren. 23 Uhr: Wieder zurück und hoffen, dass Nele schon schläft. Das wars. Jeden verdammten Tag. Ich hab nicht mehr gelebt, ich hab nur noch funktioniert, und das Schlimme war, dass ich geglaubt hab ich brauche das so, auch für mich. Strukturen haben mir schon immer geholfen mit meinen Aggressionen und mit der Wut fertig zu werden, es ist einfach alles- ordnungsgemäß abgelaufen in meinem Leben. Und ich dachte mir immer: Okay, gut, es funktioniert. Das ist doch super. Mach es morgen nochmal genauso. Irgendwann wirst du Nele heiraten, ihr werdet Kinder kriegen, alt werden. Das ist zwar nicht perfekt, dir fehlt was, aber hey, sieh dir an wie du früher gelebt hast. Die Drogen, die Gewalt. Das willst du doch nicht mehr. Das hier ist besser. Bis ich dich kennen gelernt hab und bis ich gemerkt hab, dass besser nicht gut genug ist." Obwohl ich doch sah wie sie sich unter meinen Berührungen wandte, legte ich trotzdem meine Hand auf Lahjas Knie. Oder vielleicht auch gerade deswegen. Um eine Reaktion von ihr zu provozieren. "Du bist so- lebendig. In allem, was du tust. Und ich liebe das. Ja, du bist egozentrisch und laut und wütend und du hast so viel Hass in dir, aber gerade weil du so viel Hass in dir hast, hast du auch genauso viel Liebe in dir. Du fühlst Dinge viel mehr, als andere Menschen, du bist emotional und sensibel und gleichzeitig verbissen und wütend und verschlossen. Und provokant. Manchmal- manchmal liebe ich sogar die Dinge, die ich eigentlich an dir hassen sollte, Lahja. Die Dinge, die du selber an dir hasst. Ich will das nicht befürworten und ich bin auch immer noch der Meinung, dass Drogen nicht gut sind, weder für den Körper, noch für die Seele, aber manchmal- manchmal macht mich das so sehr an wie du dich auf Drogen verhältst. Allein schon- dieser Blick in deinen Augen, wenn du was genommen hast. Wie viel mehr Selbstbewusstsein du dann hast. Das kann so anziehend und erregend sein. Und ja, es ist nicht gut, wenn man seine Wut nicht unter Kontrolle hat, das stimmt und das werde ich dir auch immer wieder predigen, aber- manchmal habe ich dich für diese Energie beneidet. Dass du nicht, wie ich, einfach nur funktionierst, sondern diesen Rausch der Wut noch kennst. Als das- mit Kilian passiert ist, da habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gespürt wie das ist, wenn man einfach schwarz sieht und während das einerseits zwar belastend ist, war das auch- befreiend. Ich war so lebendig. Ich will meine Prinzipien nicht ändern, ich bin immer noch ich selber und ich weiß, dass es richtig ist mich zu kontrollieren und mir Strukturen zu setzen, aber du hast ein bisschen Chaos in mein Leben gebracht. Gutes Chaos. Ich will dieses Chaos. Du denkst, dass das überhaupt nicht zu mir passt und dass ich jemanden brauche, der genauso willensstark ist wie ich und genauso fokussiert, aber das stimmt nicht. Ich brauche genau das, was du bist. Genauso wie Noah, sonst wäre er nach all den Jahren nicht immer noch bei dir. Ich glaube du siehst immer die guten Eigenschaften in anderen Menschen und du bewunderst sie dafür - bei mir vielleicht mein Durchhaltevermögen und meine Kontrolle, bei Noah sein gutes Herz und seine Empathie - und dann versuchst du diese Dinge auch zu verkörpern, weil du Angst hast die Menschen zu verlieren, die du liebst, und weil du denkst, dass du sie am ehesten bei dir halten kannst, wenn du genauso bist, aber dann merkst du, dass das nicht geht. Und das frustriert dich. Du bist so sehr auf die Dinge fixiert, die du nicht bist und die du nicht kannst, dass du den Blick dafür verlierst, was dich ausmacht und wie gut du eigentlich bist, Lahja. Wie sehr man dich eigentlich lieben kann. Für dich. Und- es tut mir unfassbar Leid, dass ich dich schon wieder daran zweifeln lasse, du weißt gar nicht wie sehr. Ich habe einen Fehler gemacht, ich habe dich hintergangen, aber das ist mein Fehler, nicht deiner. Das ist meine Schwäche, nicht deine. Hass mich, sei wütend, sei verletzt, sei enttäuscht. Zweifel an unserer Beziehung und an meiner Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit und an meinen Versprechungen, das würde ich auch tun, misstrau mir. Aber zweifel nicht an dir selber. Du hast nichts falsch gemacht." Sanft drückten sich meine Finger in ihr Knie, während sie immer noch von der Seite ansah. "Du musst endlich damit anfangen auch dich selber zu lieben."
ZACHARY WILLIAM COLES # 28 YEARS OLD # STRAIGHT EDGE
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