RE: COLORADO
Als ich an diesem Morgen aufwachte, eng an Jamie gedrückt, da fühlte sich meine Welt an wie aus Watte und Wolken mit einem rosafarbenen Himmel über uns. Weich und wunderschön. Die Liebe, die ich für sie empfand, hatte ganz neue Dimensionen angenommen und obwohl ich es mir in der Nacht nicht gelungen war diese drei besonderen Worte zu wiederholen, die sie mir in ihrer Ekstase ins Ohr geflüstert hatte, spürte ich doch tief in mir, dass es so war. Ich liebte sie. Sie machte meine Welt zu einem besseren Ort. Sie gab meiner Existenz einen Sinn und eine Perspektive und obwohl das schon lange so war, hatte ich es noch nie so intensiv gespürt wie in dieser Nacht. Ich liebte sie wirklich und das Lächeln dieser Emotion, ebenso wie die innere Ausgeglichenheit, die damit einher ging, die ließ ich mir nicht nehmen. Nicht von Matts dummen, neckischen Sprüchen am nächsten Morgen, auch nicht von Madisons wissenden Blicken und schon gar nicht- schon gar nicht von Haily. Ich durfte mir das nicht von ihr nehmen lassen! Als Matt uns damit konfrontierte, dass meine Schwester am Abend hierher kommen würde, war meine erste geschockte Reaktion deshalb auch, dass ich schnell mein Zelt zusammen räumen und von hier verschwinden wollte, aber ich hatte diesen Wunsch noch nicht einmal ausgesprochen, als Jamie neben mir schon in verzückte Vorfreude verfiel. Viel zu lange hatte sie ihre Freundin nicht mehr gesehen und es schien so als wäre eine überstürzte Flucht gar keine Option für sie. Und damit auch nicht für mich. Ich fühlte mich nicht gezwungen hier zu bleiben, niemand drängte mich dazu, keiner redete auf mich ein und ich war mir auch fast sicher, dass Jamie es verstehen würde, wenn ich unter den Umständen für ein paar Tage alleine verschwand, aber das wollte ich nicht. Ich wollte nicht ohne meine Freundin sein, vor allem nicht jetzt. Ich wollte Zeit mit ihr verbringen und über das ganze Gesicht strahlen, ich wollte glücklich sein, verliebt sein und das war so viel wichtiger, als Haily. Das war wichtiger, als alles andere. Das wurde mir nur noch mehr bewusst, als ich am Nachmittag dann doch für eine Stunde verschwand, um alleine durch den Wald zu laufen und meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Haily war nicht wichtig, Chas war auch nicht wichtig, ich wollte meine Entscheidungen nicht mehr von ihnen beeinflussen lassen und obwohl ich vor dem Wiedersehen mit meiner Schwester noch immer merklich angespannt war, nahm ich mir vor, ihr nicht so viel Einfluss in mein Leben zu gewähren. Sollte sie halt auch hier sein, das war mir egal. Ich musste ja nicht mit ihr reden.
Erst am Abend, als wir Geräusche hörten und dann kurz darauf tatsächlich Haily hinter dem Bus von Matt und Madison auftauchte, wurde mir schlagartig bewusst, dass das alles nicht so leicht war. Ich konnte nicht einfach entscheiden, dass ich mich nicht für sie interessierte, und dann war das so. Das ging nicht. Sie war meine Schwester, mehr als das. Meine Zwillingsschwester. Wir waren nebeneinander in dem Bauch unserer Mutter zum Leben erwacht und dieses unsichtbare Band, das man damit um uns gelegt hatte, das wäre immer irgendwie da. Haily wäre immer irgendwie ein Teil von mir und das spürte ich so deutlich und schmerzhaft, als ich in ihre traurigen Augen blickte, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als mich umzudrehen und zu gehen, weil diese Emotionen mich maßlos überforderten. Ich wollte mich nicht um sie sorgen, ich wollte ja nicht einmal über sie nachdenken, verdammt, und wie so oft resultierte das darin, dass ich mich körperlich einfach von der Situation distanzierte. In der Hoffnung, dass meinem Kopf dasselbe gelang. Erfolglos. Eine Zeit lang stromerte ich ziellos durch den Wald, so als wäre die Chance das traurige Gesicht meiner Schwester endlich zu vergessen mit jedem Schritt größer, den ich ging, aber als ich am See ankam, da war keine einzige meiner Sorgen verschwunden. Ich fühlte ihre Last noch immer auf meinen Schultern. Ohne zu wissen was genau ihr passiert war, spürte ich Hailys Schmerz und weil Bewegung anscheinend nicht half, kletterte ich auf einen der Bäume, setzt mich dort oben auf einen starken, dicken Ast und atmete mehrmals tief durch. Die Sonne ging gerade über dem Wald unter, das Wasser vom See glitzerte zwischen den übrigen Baumkronen hindurch und der Schönheit dieser Landschaft gelang es tatsächlich mich für einen Moment abzulenken, aber auch das war nicht von Dauer. Sollte ich mit meiner Schwester reden? Sollte ich sie fragen was los war? Würde mir das helfen? Soll ich doch weglaufen? Sollte ich Jamie hier zurücklassen? Die Fragen waren so drückend und penetrant, dass ich kaum mitbekam wie sich irgendwann leise Stimmen näherten und erst als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung in den Büschen beobachtete, fiel mir auf, dass ich nicht mehr allein war. Haily und Matt. Zusammen. Scheiße. Mein Herz raste auf einmal, viel zu schnell, und panisch sah ich um mich, auf der Suche nach einem Ausweg, aber wenn ich jetzt hier vom Baum herunter kletterte, dann würden die beiden mich ohne Zweifel sofort bemerken. Und dann würde ich auch mit meiner Schwester reden müssen. So weit war ich noch nicht, das wollte ich noch nicht, stattdessen zog ich also meine Schultern hoch, machte mich dort oben so klein wie möglich, presste meine Kiefer aufeinander und hoffte, dass sie einfach schnell wieder verschwanden. Ich fühlte mich unwohl, wenn Haily hier war, ihre Nähe erinnerte mich an alles, was ich doch jetzt gerade versuchte hinter mir zu lassen, an all den Schmerz und die jahrelange Ungewissheit, und das war so drückend unangenehm, dass ich irgendwann sogar die Augen schließen musste, in der Hoffnung, dass ich sie dadurch ausblenden konnte, aber auch das war nicht von großem Erfolg. Vor allem dann nicht, als das Gespräch dort unten auf einmal ernster wurde. Als Haily, ausführlich und detailliert, beschrieb, was ihr passiert war. Und ich, ich saß nur dort oben, hörte jedes Wort mit an, und war gleichzeitig dem Leid völlig ausgeliefert, das damit einher ging. Denn alles, was meine Schwester durchlebt hatte, spürte ich so viel intensiver, als Matt oder Jamie oder Madison es je könnten. Ich spürte es so als wäre es mir selber geschehen und ich konnte nichts dagegen tun, als einfach dort oben zu sitzen und es auszuhalten. So lange, bis die Stimmen unten versiegten, bis Matt und Haily aufstanden und gemeinsam wieder im Wald verschwanden. Erst da wagte ich es mich zu bewegen und ganz langsam wieder nach unten zu klettern, um meine müde gewordenen Glieder anzuregen. Was sollte ich denn jetzt tun? Wie sollte ich damit umgehen? Ich hatte doch genau gehört, dass meine Schwester nicht einmal mit mir reden wollte. Dass sie sich nicht auch noch mit mir auseinander setzen konnte. Sie wollte kein Chaos, kein Durcheinander, keinen Stress, das alles würde ihr jetzt gerade den Rest geben, und weil mich das mal wieder vor eine riesige Ungewissheit stellte, lief ich schon wieder ziellos durch die Dunkelheit. Ich lief in die Richtungen, die sich richtig für mich anfühlten, ohne genau zu wissen, wo ich war, bis ich irgendwann, viel später, das flackernde Lagerfeuer unseres Camps vor mir erspähte und erschrocken stehen blieb. Haily würde mich zwischen den Bäumen nicht erkennen, aber ich sah sie ganz deutlich, dort im Schein des Feuers, und beobachtete sie auch so lange, bis ich unsicher und vorsichtig auf sie zuging. Weil es sich richtig anfühlte das zutun. Mein ganzer Körper war angespannt, ich hatte meine Schultern hoch gezogen und schlug auch sofort den Blick nieder, als sie letztendlich ihren Kopf hob, um mich anzusehen, aber trotzdem ging ich weiter. Bis ich vor ihr stehen blieb und mit einem schwachen Nicken neben ihr auf den Stein deutete. "Darf ich- mich zu dir setzen? Oder möchtest du lieber allein sein?"
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
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