RE: EAST LOS ANGELES
Es war schon schwer genug mich vor Haily zu öffnen und mich ihr gegenüber angreifbar zu machen, aber als sie mich dann urplötzlich auf den Boden riss, spielerisch mit mir kämpfte und damit diese eigentlich sehr intime Beziehung für alle sichtbar nach außen trug, überschritt sie damit mal wieder meine Grenzen. Ich war so nicht. In ihrem Umfeld war das eine Sache, da kannte ich die anderen Personen nicht und wenn doch, dann waren die ähnlich weltoffen wie das blonde Hippie-Mädchen, aber hier, in meiner Welt, da gehörte das nicht hin. Da war es schon schwer genug Haily überhaupt zu küssen oder in den Arm zu nehmen, nicht nur weil ich diesen Menschen hier die verletzliche Seite von mir nicht zeigen wollte, sondern auch, weil die Erfahrung mit Chris mich eines Besseren belehrt hatte. Wenn Lucy damals nicht auf die Bühne gekommen wäre, zu mir, um mir dort ihre Liebe zu gestehen, dann hätte Chris niemals erfahren, dass sie noch lebte. Er wäre nicht nach San Francisco gekommen und er hätte sie nicht umgebracht. Die Situation war jetzt eigentlich eine ganz andere, ich stand nicht mehr vor tausend Menschen, wenn wir ein Konzert spielten, sondern in einem mittelgut gefüllten kleinen abgeranzten Raum. Niemand würde hier Videos veröffentlichen, vor allem nicht aus dem Backstage Bereich, und Haily hatte wahrscheinlich auch keine Feinde, die sie lieber tot sehen wollten, aber das, was Chris Lucy und mir angetan hatte, das prägte. Das machte paranoid.
Meine Gefühle hielt ich deshalb lieber verschlossen, entweder nur in mir selber oder in einem sicheren, abgesperrten Raum wie Hailys Zimmer oder einem dunklen Wald, nicht weit entfernt von einem illegalen Rave. Dort war es okay sich auszuleben, hier hingegen stöhnte ich unwillig auf, versuchte sie von mir zu schieben und wollte gerade tatsächlich lauthals protestieren, als sie sich schon aus dem Staub machte und dabei zu allem Überfluss auch noch eine Spur der Verwüstung hinterließ. Super. Fantastisch. Und die anderen Jungs hatten natürlich nichts Besseres zutun, als mich amüsiert auszulachen, als ich kopfschüttelnd und murrend wieder aufstand, um zumindest ein bisschen Chaos zu beseitigen. So lange, bis mir die dummen Kommentare so auf die Nerven gingen, dass ich die restlichen Flaschen einfach auf dem Boden liegen ließ. Mir doch egal. Konnte ja auch der Veranstalter später aufräumen. Diesbezüglich war ich vielleicht noch ein bisschen zu verwöhnt von den großen Konzerten, die ich vor gar nicht allzu langer Zeit gespielt hatte, und um diese Scheißegal-Mentalität nur noch zu unterstützen, zog ich mir auch kurz darauf die erste Line Kokain in die Nase.
Während die ersten zwei Bands draußen schon spielten, war ich nur mit meinem Konsum beschäftigt, trank immer mehr Alkohol, und bereitete mich damit auch gleichzeitig auf unser Konzert vor. Ich wusste selbst nicht mehr genau, wann ich das letzte Mal nüchtern eine Bühne betreten hatte, es musste viel zu lange her sein. Erst bei der dritten Band wagte ich mich endlich nach draußen, mit starrem Tunnelblick, blieb dabei kurz am Ende des Raumes neben Haily stehen, die sich natürlich wieder irgendwo in Sicherheit brachte, und begrüßte auch gezwungenermaßen Apple kurz, die sich neben ihr das Konzert ansah, doch dann schob ich mich direkt weit nach vorne. Dorthin, wo ich nicht nur einmal einen harten Fausthieb oder einen Tritt gegen die Hüfte abbekam. Dass Chris auch hier war konnte ich noch nicht ahnen, er stand die ganze Zeit noch weiter hinten im Raum oder rauchte draußen eine Zigarette nach der anderen, und als ich mich direkt nach der Band wieder in den Backstage-Bereich begab, stieß ich im Vorbeigehen auch nur einmal neckend meine Hand gegen Hailys Schulter, aber redete weder mit ihr, noch mit Apple. Auch das sollte ich noch bereuen, denn vielleicht hätte irgendeine der beiden erwähnt, dass Apple mit ihrem Vater gekommen war. Vielleicht hätte man dadurch verhindern können, was nur wenig später geschah.
Während die anderen Jungs ihre Instrumente stimmten, blieb ich immer stur hinter der Bühne, genehmigte mir noch ein letztes Bier, noch eine letzte Line und kam erst in dem Moment nach draußen, als wir endlich anfangen durften zu spielen. Die ersten harten Töne der Musik lockten dann auch die Zuschauer wieder hinein, die größtenteils noch draußen auf der Straße standen, aber schon am Ende des ersten Songs war der Raum wieder gut gefüllt. Im Moshpit ging es noch härter zu als bei den vorherigen Bands und auch ich steigerte mich immer mehr in diesen Auftritt hinein, trug immer mehr Wut nach außen, schwitzte, schlug um mich, schrie ins Mikrofon - bis ich auf einmal inne hielt. War das nicht--? Gegen die blendenden Scheinwerfer starrte ich in die Menge und blieb mitten auf der Bühne urplötzlich stehen, denn dort, etwas weiter hinten, war zweifellos das Gesicht von Chris. Für eine zehrend lange Sekunde fixierte er mich hart mit seinem Blick, dann hob er seine Mundwinkel zu einem kalten, triumphalen Grinsen und beugte sich zur Seite, ganz nah zu Haily, die neben ihm stand, um irgendetwas in ihr Ohr zu nuscheln. Absichtlich und provokativ. Seine Hand lag dabei auf ihrer Schulter, ich sah es ganz genau, und dann- dann wurde auf einmal alles schwarz. Meine Bandkollegen tauschten schon verwirrte Blicke untereinander aus, weil ich meinen Einsatz verpasste und zu allem Überfluss auch noch das Mikrofon fallen ließ, aber das alles registrierte ich gar nicht. In meinem Körper gab es gerade nur Wut und Hass und Rachegelüste, die ich niemals hatte ausleben dürfen. Und Angst. Scheiße, ich hatte so viel Angst um Haily, so eine Panik davor, was Chris mit ihr machen würde, dass ich völlig abwesend nach meiner Flasche Bier griff, die vor mir am Rande der Bühne stand, von der Anhöhe hinunter sprang und durch die Menge hindurch direkt auf dieses beschissene Arschloch zulief, der jedoch noch viel zu sehr mit sich selber und seinem erhabenem Grinsen beschäftigt war, um zu merken, was passierte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde trafen unsere Blicke noch einmal aufeinander, für einen ganz kurzen Moment starrten wir uns gegenseitig in die Augen und ich glaubte in seinem Gesicht den Schock und die Panik erkennen zu können, doch da hatte ich schon ausgeholt und schlug ihm mit voller Wucht die Glasflasche über den Kopf. So hart, dass sein Körper direkt vor mir zusammen sackte. Einen Raunen ging durch den Raum, die Instrumente verstummten nach und nach, aber auch das nahm ich nicht wahr. Der Hass in mir war zu drängend, die Droge trieb mich nur noch mehr an und ich konnte nicht anders, als mich auf den bewusstlosen Körper von Chris zu stürzen und erneut auf ihn einzuschlagen, immer wieder. Anfangs noch mit der Glasflasche, so oft, bis sein Kopf blutete, dann mit meiner bloßen Faust. Unkontrolliert und haltlos. Knochen knackten unter meinen Fingern, sein Gesicht verlor immer mehr an Form, Menschen in unmittelbarer Nähe wichen entweder zurück oder schrien panisch, vielleicht waren dazwischen auch die Stimmen von Haily oder Apple, ich konnte es nicht sagen. Das erste Mal, dass wieder irgendetwas zu mir durchdrang, war, als ich plötzlich Hände an meinem Körper spürte. Als gleich mehrere Männer auf einmal mich von dem leblosen Haufen Menschenmasse wegzogen, so weit, dass auch meine letzten verzweifelten Tritte Chris nicht mehr erreichen konnte. Als ich dort stand, gebückt, atemlos keuchend, mit den fremden Händen, die sich in mein Oberteil krallten und unbekannten Stimmen in meinem Ohr, die irgendetwas riefen, da begann ich langsam wieder einen klaren Gedanken zu fassen und zu verstehen, dass ich gerade mit meinen eigenen, vor Schmerzen pochenden Händen, erneut ein Menschenleben genommen hatte.
AIDEN RUTHERFORD # 28 YEARS OLD # HARDCORE
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