RE: EAST LOS ANGELES
Je mehr Zeit verging, desto sicherer war ich mir mit meiner Entscheidung das Richtige zutun. Gerade in den ersten ein bis zwei Tagen hatte ich noch mehrmals an mir selber gezweifelt und infrage gestellt, ob ich überhaupt das Recht hatte so etwas vor Haily zu verschweigen, aber dann wiederum: Was gab mir das Recht ihre Welt in Schutt und Asche zu legen? Chris hatte entschieden, dass ich das übernehmen sollte, aber das war umso eher ein Grund dafür es einfach nicht zu tun. Er hatte nicht verdient, dass man nach seinen Regeln spielte. Und vielleicht hatte er ja auch genau darauf abgezielt? Vielleicht hatte er das alles nur getan, damit er Chaos in dem Leben von Haily und mir anrichten konnte und damit wir von nun an wieder getrennte Wege gingen, denn ich war mir zweifellos sicher, dass das hier - was auch immer das zwischen uns beiden war - nicht mehr funktionieren würde, wenn ich Haily mit der Grausamkeit konfrontierte, die man ihr angetan hatte. Spätestens wenn sie Hals über Kopf die Stadt verließ und nie wieder hierhin zurückkehrte, wären wir Geschichte. Nein, diesmal würde ich Chris nicht das geben, was er von mir wollte, diesmal würde er nicht gewinnen. Viel eher festigte sich gerade der Plan in meinem Kopf, dass ich die Sache in Chas Hände legte. Wenn ich ihm erzählte, was dieser Mann mit seiner kleinen Schwester getan hatte, dann würde er sich darum kümmern, dass das nie wieder geschah, die Frage war nur, ob auch er Haily gegenüber dicht halten würde. Das musste ich in Erfahrung bringen, früher oder später, und bis dahin würde ich auf sie Acht geben. Ich konnte aber auch nicht wissen, dass alles ganz anders kommen sollte, noch bevor ich die Chance hatte überhaupt mit Chas zu reden.
Es war ein unheimlich glücklicher Zufall, dass Haily tatsächlich gerade jetzt von einer Grippe im Bett gehalten wurde und dass sie dadurch gar nicht die Chance hatte Apple zu besuchen. Das gab mir ein bisschen Vorlaufzeit, um schonmal darüber nachzudenken mit welchen Notlügen und Ausreden ich sie von dort fern halten oder zumindest dafür sorgen konnte, dass sie nicht über Nacht bei ihrer Freundin blieb. Und ich hatte Zeit, um mich selber wieder zu sammeln und überhaupt erstmal zu realisieren, dass ich mir das alles nicht eingebildet hatte. Jemand, der so feinfühlig war wie Haily, dem entging natürlich nicht, dass ich mich anders verhielt als sonst und obwohl ich meine Besuche bei ihr sowieso schon so kurz wie möglich hielt, sprach sie mich trotzdem immer wieder drauf an, was denn mit mir los sei. Jedes Mal aufs Neue wimmelte ich ihre Frage jedoch einfach ab, entschuldigte mich mit den Worten, dass ich einfach etwas neben mir stand oder dass ich vielleicht auch krank wurde, gefolgt von einem schwachen Lächeln, das sie hoffentlich ein wenig beruhigte. Zum Glück gab mir das auch Grund genug, um mir Hailys kränkliche Quengelei nicht stundenlang anhören zu müssen, sondern mich nach einem kurzen Kontrollbesuch wieder zu verabschieden und sie in der Obhut ihrer Mitbewohner zu lassen. Ich konnte ja auch nicht riskieren, dass sie mich noch richtig ansteckte, so kurz vor dem Konzert. Zumindest sagte ich ihr das, damit sie es einfach akzeptierte. Nur den Besuch beim Arzt, den stand ich von vorne bis hinten mit ihr durch und fand zum Glück auch eine geeignete Möglichkeit, um sie auch auf Geschlechtskrankheiten untersuchen zu lassen, ohne dass sie Verdacht schöpfte.
Am Abend des Konzertes, eine knappe Woche nach dieser verheerenden Nacht, war ich mir meiner Entscheidungen so sicher, dass ich mich zumindest schon etwas ruhiger und ausgeglichener fühlte als an den Tagen zuvor. Die Sicherheit, dass ich Chas zur Not um Hilfe bitten konnte, wirkte sich so beruhigend auf mich aus, dass ich mich heute problemlos auf das Konzert konzentrieren konnte, und auch Haily ein offenes Lächeln schenkte, als sie eigentlich viel zu früh im Backstage-Raum aufschlug und sich an mich drückte. Wenn ich sie ansah, dann spielten sich zwar noch immer diese Bilder aus dem Video in meinem Kopf ab, aber gleichzeitig konnte ich dabei auch in ihre strahlenden, großen Augen sehen und wurde auf die Art direkt daran erinnert, dass ich mich richtig verhielt. Wie glücklich sie heute aussah, das Lächeln zog sich über ihr ganzes Gesicht. Wahrscheinlich war sie auch umso aufgedrehter, nachdem man sie jetzt eine Woche ans Bett gefesselt hatte. "Hallo erstmal. Du willst was wiederholen?" Meine Bandkollegen konnten auf Anhieb anscheinend viel mehr aus ihrem Blick lesen als ich, denn die verabschiedeten sich bereits in weiser Voraussicht nach draußen, während ich noch brauchte, um zu verstehen, worauf Haily gerade hinauswollte. Richtig. Da stand ja noch eine Frage offen im Raum. Das hätte ich schon beinah vergessen und als sie mich so erwartungsvoll ansah, war ich mir auch nicht recht sicher, ob ich überhaupt darüber reden wollte. Im Moment war das für mich gar keine Option, wie sollte ich denn auch jemals wieder mit Haily so schlafen, ohne an Chris denken zu müssen? Unsicher sah ich deshalb auch kurz auf den Boden vor mir, aber weil sie mich so euphorisch anblinzelte und ihre hibbelige Körpersprache verriet, dass sie unbedingt mit mir darüber reden wollte, willigte ich mit einem Nicken ein. "Nein, du zerstörst nichts. Du hast also darüber nachgedacht, hm?" Bevor sie dazu kam etwas zu sagen, beugte ich mich noch kurz vor und küsste sie auf die Lippen. "Du siehst auch schön aus. Und es tut mir Leid, wenn ich komisch war. Das hat nichts mit dir zutun, ehrlich. Das wird schon wieder."
AIDEN RUTHERFORD # 28 YEARS OLD # HARDCORE
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