RE: NELE
Seit mehreren Wochen lebte ich jetzt schon bei Nele, viel länger als anfangs beabsichtigt, aber ich konnte mich einfach nicht von ihr lösen und sie dem Dasein überlassen, das sie vor meinem Einzug geführt hatte. Zu Beginn war unser Zusammenleben unheimlich schwierig gewesen, nicht nur einmal hatten wir uns in die Haare gekriegt, weil ich sie mit meiner strengen, autoritären Art nervte und ihr Dinge untersagte, die sie unbedingt tun wollte. Sie musste sich erst an meine Anwesenheit gewöhnen und vor allem auch an die Regeln, die ich aufgestellt hatte: Kein Besuch, während sie selber nicht da war. Ihre Drogenfreunde musste sie rausschmeißen, wenn sie die Wohnung verließ. Außerdem befahl ich ihr hinter sich her zu räumen, nachdem ich wirklich penibel hier gesäubert und aufgeräumt hatte. Nach dem Essen musste sie spülen und einmal die Woche war sie für das Badezimmer zuständig. Glasflaschen wurden nicht mehr einfach so auf dem Tisch stehen gelassen, sondern in unsere Pfandtaschen geräumt und wenn sie beim Essen machen plötzlich die Lust verlor, dann räumte sie hinter sich weg. Nicht nur einmal hatte sie sich dadurch bevormundet gefühlt, hatte mich angeschrien und wollte unseren mündlichen Vertrag einfach auflösen, mich wieder vor die Tür setzen, aber ich lernte auch schnell, dass Nele solche Dinge meist sofort wieder vergaß. Beim ersten Rausschmiss war ich am nächsten Tag noch reumütig angekrochen gekommen, aber da war die ganze Wut schon wieder verdampft und sie öffnete mir einfach freudestrahlend die Tür, fragte mich wo ich über Nacht gewesen war. Beim nächsten Mal genauso. Und irgendwann interessierte es mich einfach nicht mehr. Dann verließ ich für ein paar Stunden die Wohnung, wenn sie mich mal wieder hysterisch anschrie, aber wenn ich zurückkehrte, dachte keiner mehr an unseren Streit und keiner redete mehr darüber. Mit der Zeit gelang es mir durch meine Beharrlichkeit auch tatsächlich ein wenig Struktur in ihr Leben zu bringen. Sie hatte oft versucht sich dagegen zu wehren, aber wenn man nur standhaft blieb und ihr immer wieder mahnend sagte, dass bestimmte Dinge einfach nicht gingen, wenn man mit jemandem zusammen lebte, dann konnte man tatsächlich zu ihr durchdringen. Mit viel Geduld. Und das wiederum half mir letztendlich und motivierte mich dazu noch länger bei ihr zu bleiben. Es war schön zu sehen wie ich ihr Leben positiv beeinflussen konnte und wie sie zu einem besseren, umgänglicheren, gesellschaftsfähigeren Menschen wurde, dank mir. Das, was ich bei meiner Tochter versäumt hatte, schien bei Nele endlich zu fruchten und damit gab sie mir alles, was ich mir von unserem Zusammenleben erhofft hatte. Sie aß regelmäßig, sie kümmerte sich um sich selber und um ihren Lebensraum und mit der Zeit kamen auch immer weniger Drogenfreunde zu uns. Keine kleine Junkies lungerten mehr in ihrem Zimmer herum, das war doch schonmal ein riesiger Fortschritt. Ein kleiner Schritt eines langen Weges, denn natürlich war sie nicht auf einmal das nette Mädchen von nebenan. Viel zu oft schleppte sie fremde Männer mit in ihr Zimmer, manchmal auch zwei auf einmal. Ich hörte sie beim Sex und wenn ich am nächsten Tag in ihren Raum ging, um dort zu lüften, lagen da schon wieder neue leere Alkoholflaschen oder Tütchen mit Pillen, weißem Pulver und Gras. Ihr Konsum war etwas, auf den ich kaum Einfluss nehmen konnte, unter anderem auch deshalb, weil ich sie natürlich nie begleitete, wenn sie feiern ging. Sie hatte ein paar Mal versucht mich zu überreden, aber ich wehrte mich vehement dagegen. Ich wehrte mich gegen das Umfeld, gegen die Verführung, die damit einher ging, und ich wollte mir in Neles Anwesenheit auch nicht die Kante geben. Aus Angst, dass sie dieselbe Wut zu spüren bekam wie meine Tochter damals. Dass ich mit ihr dieselben Fehler machte wie mit Cat. Wenn ich mich richtig abschoss, dann tat ich das alleine, in einer Kneipe, und dann schlief ich hinterher auch nicht in Neles Wohnzimmer, sondern in meiner eigenen Wohnung und erzählte ihr hinterher ich wäre bei einem Freund versackt. Alkohol war zwar mein täglicher Begleiter und ich trank jeden Abend auch mindestens zwei, drei Flaschen Bier, aber bisher nie so viel, dass ich die Kontrolle über mich verlor. Nicht, während meine Mitbewohnerin in der Nähe war.
Von meiner Krankheit wusste sie bisher auch noch nichts. Sie sah zwar, dass ich ebenfalls Tabletten nahm, und sie fragte mich auch danach, aber ich blockte sie mit einer nicht ganz wahrheitsgemäßen Version ab, indem ich ihr von Problemen mit meiner Bauchspeicheldrüse erzählte, aber nicht, dass ich Krebs hatte und dass mir der Arzt gerade mal ein knappes Jahr zu leben gab. Ein paar Jahre mehr könnten es werden, wenn ich mich zu einer Chemotherapie entschloss, was mir auch von allen Seiten angeraten wurde, aber nein. Ich konnte mich jetzt nicht in Behandlung geben. Nicht, während ich auf Nele so einen guten Einfluss nahm und ihr Leben langsam wieder Struktur erhielt. Ich konnte sie nicht im Stich lassen, mich ins Krankenhaus einweisen und über Wochen hinweg die Seele aus dem Leib kotzen. Das ging nicht und so lehnte ich immer wieder entschieden ab, ohne meine dumme Wahl zu begründen. Es lag aber auch nicht nur daran, dass ich Nele half, sondern dass sie im Gegenzug auch unheimlich viel Einfluss auf mich nahm. Es war befreiend und verlockend tagtäglich diese Lebensfreude auf ihrem Gesicht zu sehen, ihr Verhalten erinnerte mich an längst vergessene Abstürze in meiner Jugend, an die Verantwortungslosigkeit und die Kurzsichtigkeit, die damals mein Leben bestimmt hatte. Nele konnte zwar auch wütend werden und laut fluchen, aber meistens war sie so grenzenlos. So lebensfroh. So frei und unabhängig. Und das wiederum- Scheiße, manchmal war das schon fast wie eine Droge. Dann klebte ich an ihren Lippen und stellte mir innerlich vor wie es wäre noch einmal so auszubrechen wie sie. Noch einmal in den Tag hinein zu leben, ohne sich von der scheiß Welt und dem scheiß Leben herunterziehen zu lassen. Noch einmal wirklich glücklich zu sein, bevor ich in ein paar Monaten abkratzen würde. Bisher holte mich die Vernunft immer wieder ein, wenn ich gerade kurz davor war mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und mich doch zu einer durchzechten Nacht hinreißen zu lassen, aber keine Ahnung, wie lange ich diesem Verlangen noch standhalten konnte. Außerdem gab es mir auch unheimlich viel mit Nele über ihre Erfahrungen zu sprechen, über ihre Depression und ihren Suizidversuch. Das war nicht ihr liebstes Thema, aber manchmal, wenn sie ein wenig erschöpft war, dann konnte ich sie doch dazu bewegen. Dann drängte ich sie dazu mir noch einmal zu sagen, wie sie den Tod definierte. Mir noch einmal zu erzählen, dass Sterben nur ein weiteres Abenteuer war und dass danach noch ganz viel passieren würde. Dass es nichts Schlimmes war diese Welt zu verlassen. Das gab mir so viel Hoffnung und gleichzeitig so viel Ruhe, dass ich sie danach ganz fest in den Arm nahm, ohne ihr zu erzählen, weshalb sie mich damit so bewegte. Körperlich war es über die paar Wochen hinweg aber auch tatsächlich bei dieser unschuldigen Nähe geblieben. Nele versuchte noch immer manchmal mich zu verführen und sie ging mit ihrem Körper auch sehr reizvoll und offenherzig um, aber ich blieb standhaft. Mit der Zeit war sie zwar immer mehr zu einem eigenständigen Menschen geworden und wenn ich sie ansah, dann dachte ich nicht mehr ständig an meine kleine Catherine, aber sie war trotzdem wie meine Tochter. Ich versuchte noch immer die Fehler zu begleichen, die ich bei Cat gemacht hatte, und das würde einfach nicht funktionieren, wenn ich eine sexuelle Ebene zuließ. Das ging nicht.
Diese Wohngemeinschaft, die aus einer fixen und viel zu voreiligen Idee entstanden war, gab uns also tatsächlich eine ganze Menge und nachdem die anfangs vereinbarten vier Wochen herum gegangen waren, sagte ich ihr einfach, dass die Renovierungsarbeiten in meiner Wohnung länger andauerten und dass ich deshalb noch hier bleiben müsste, was für Nele genauso in Ordnung schien wie für mich. Wir waren beide zufrieden so. Das sollte sich aber noch viel schneller ändern, als gedacht, denn eines mittags öffnete ich die Tür und da stand niemand geringeres als Neles Mutter hinter. Ich war so perplex, dass ich sie einfach gedankenlos hinein ließ, womit das ganze Übel erst so richtig losgetreten wurde: Ich war für sie schon Stressfaktor genug, denn was hatte denn ein so alter Mann in der Wohnung ihrer Tochter verloren, die auch noch von ihr bezahlt wurde? Aber das war erst der Anfang, denn als sie zu Nele ins Zimmer lief, lag dort zusätzlich noch ein anderer Mann mit ihr im Bett, Alkoholflaschen waren auf dem Boden verteilt, Drogen waren überall zu finden, genauso wie übervolle Aschenbecher. Von der durchzechten Nacht sah ihre Tochter unheimlich fertig aus und Neles Mutter musste gar nicht lang überlegen, bis sie auf einmal ein paar Leute anrief und kurze Zeit später drei Männer vor der Tür standen, um das kranke Mädchen abzuholen. Ich hatte dem ganzen Geschehen gar nicht so schnell folgen können, verstand nicht, was hier vor sich ging, weil ich anfangs natürlich auch höflich versuchte mich aus den Streitereien herauszuhalten, die mich ja eigentlich nichts angingen, aber als fremde Menschen auf einmal gewaltsam nach Neles Körper griffen und sie aus der Wohnung zerren wollten, da passierte etwas in mir. Viel zu sehr erinnerte mich diese Situation an meine Trennung von Cat. Daran, wie das Jugendamt vor meiner Tür gestanden hatte, um sie mir wegzunehmen, und wie sich ihre kleinen Finger in mein T-Shirt gekrallt hatten, weil sie nicht gehen wollte. Genauso stemmte Nele sich jetzt auch gegen diese Männer, sie schrie und weinte, sie zeterte und erregte damit so eine Wut in mir, dass auch ich irgendwann begann mich einzumischen. Ich wollte sie verteidigen, wollte sie bei mir halten und verlor dadurch erstmalig in ihrer Nähe die Kontrolle über mich. Meine Wut nahm ein grenzenloses Ausmaß, ich schlug auf die Wand ein, schrie ohrenbetäubend laut um mich und ging damit so weit, dass man die Polizei rufen musste, um mich in Gewahrsam zu nehmen. Die ganze scheiß Nacht verbrachte ich eingesperrt in einer Zelle, rasend vor Wut, besorgt und verzweifelt, und als man mich endlich heraus ließ, als ich kurz darauf in eine leere Wohnung kam, da tat ich das Einzige, was sich richtig anfühlte: Ich betrank mich. Hemmungslos. Ich trank so viel, dass ich erst Stunden später schwankend zurück zu Neles Wohnung lief. Noch nie zuvor war ich in so einem Zustand hier gewesen, diesmal allerdings schon und machte es damit schon wieder nur noch schlimmer, denn gerade in dem Moment war auch Neles Mutter dort, um ein paar Dinge zusammen zu suchen. Sie hatte Angst vor mir, das sah ich in ihren Augen, sie wollte schnellstmöglich fliehen, als ich auf einmal im Flur erschien, aber ich ließ sie nicht. Ich versperrte ihr mit meinem breiten Kreuz den Weg und stellte sie zur Rede, ließ mir von ihr mit bibbernder Stimme erklären, dass Neles Ex-Freund sie kontaktiert hatte. Dass ihre Tochter nicht alleine klar kam. Dass man das doch jetzt auch ganz deutlich sah. Sie sagte mir ich solle mich von ihr fern halten und diese Wohnung verlassen und wahrscheinlich warf sie mir auch noch mehr an den Kopf, aber das hörte ich schon gar nicht mehr, weil ich mich einfach umdrehte und wieder nach unten ging. Weil ich mich auf direktem Weg zu Zac begab. Scheiße, dieser Kerl hatte nicht das Recht dazu sich einzumischen, er verbrachte nicht so viel Zeit mit Nele wie ich und er konnte nicht wissen, ob es ihr gut ging. Er durfte sie mir nicht wegnehmen! Ich brauchte sie in meinem Leben, verdammt nochmal!
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