RE: NELE
In den letzten Jahren hatte ich immer darauf geachtet, dass Nele in ihren manischen Phasen nicht allzu sehr ausbrechen konnte. Genauso wie ich während ihrer Depression dafür zuständig war sie tagtäglich ein wenig aufzumuntern und zu motivieren, holte ich sie in der Manie ständig von ihrem Höhenflug wieder herunter, indem ich sie einerseits zu beruhigenden Medikamenten drängte und andererseits gar nicht erst zuließ, dass sie bis zur Besinnungslosigkeit konsumierte und feierte. Diese Situation erinnerte mich daher unweigerlich an unsere Jugend, daran, wie wir uns früher zusammen abgeschossen hatten, und Nele würde es wahrscheinlich nicht erkennen, aber ich schüttelte regelrecht abgestoßen meinen Kopf darüber. In diesem Zustand hatte ich früher fast jeden Tag verbracht und ich war es dann auch gewesen, der sie ebenfalls unbedingt dazu drängen musste, weil sie mir sonst zu langweilig wäre. Wo war denn zu der Zeit mein Kopf gewesen, verdammt? Jahre später machte ich mir dafür noch immer Vorwürfe, das wurde auch jetzt wieder ganz deutlich, als ich Neles schwankenden Körper ansah, und vielleicht hatte es auch noch etwas mit dieser Schuld zutun, dass ich ihr den Ausweis aus der Hand nahm, stützend meinen Arm um sie legte und sie dann zur nächsten größeren Straße leitete, wo ich ein Taxi für uns anhielt. Ich fühlte mich einfach noch immer für sie verantwortlich. Weil sie nicht für sich selber die Verantwortung übernehmen konnte und es anscheinend auch sonst niemand tat.
Dass Nele nicht besonders auf Ordnung oder Sauberkeit achtete - weder in ihrer Manie, noch in ihrer Depression - das war für mich auch keine Überraschung, ich hatte schließlich jahrelang hinter ihr her geräumt, daher versuchte ich mich auch auf das Schlimmste einzustellen, als ich ihren torkelnden Körper die Treppen nach oben hievte, aber wurde dann in ihrer Wohnung von einem ganz anderen Anblick begrüßt. Überraschend aufgeräumt war es hier nämlich. Die Schuhe im Flur standen fein säuberlich aufgereiht und ein kurzes Blick in die Küche zeigte auch keinen einzigen schmutzigen Teller. Die Bettwäsche auf dem Sofa fiel mir noch gar nicht recht auf, weil Nele schon von selber ihr Schlafzimmer ansteuerte, und ich ihr einfach blind folgte, aber dass irgendetwas hier absurd war merkte ich spätestens, als sich die Tür öffnete und mir ein muffiger Geruch entgegen stieß. Von Alkohol, kaltem Schweiß und Rauch. Hier war bestimmt schon mehrere Tage lang nicht gelüftet worden, deshalb ging ich auch direkt auf das Fenster zu, nachdem ihr Körper schlaff aufs Bett gefallen war, um es zu öffnen und frische Luft hinein zu lassen. Dreck und Staub lag hier überall auf dem Boden und auf den Möbeln, die Aschenbecher quollen beinah über, Drogentütchen zierten ihren Nachttisch. Schmutzige Kleidung lag herum, viele aufreizende Dessous, Kondome und sogar ein paar Teller mit Essensresten. Dieser Anblick war tatsächlich noch schlimmer, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und ich wollte gerade schon ansetzen, um Nele eine Predigt zu halten, als mich ein leidliches, müdes Geräusch aus ihrem Mund dann doch davon abhielt. Sie würde sich morgen sowieso an nichts mehr davon erinnern. Stattdessen ging ich also nur langsam auf sie zu, nahm ihr Füße in meine Hände und zog ihr vorsichtig die Schuhe aus, um danach die Decke über ihren Körper zu ziehen. Sorge und Ärger mischte sich in meinem Blick. Ärger, weil sie ihr Leben einfach nicht selber auf die Reihe bekam, und Sorge, weil ich ihr das eigentlich nicht zum Vorwurf machen durfte. Das war die Krankheit, nicht sie selbst.
Nach diesem Anblick von ihrem Zimmer war ich aber noch beunruhigter als zuvor, deshalb richtete ich mich auch wieder auf, sah einmal um mich und nahm mir vor diese Möglichkeit wenigstens zu nutzen, um mir einen Überblick über ihr Leben zu verschaffen, wenn sie mich schon nicht von sich aus daran teilhaben ließ. Sonst tat es ja niemand. Oder doch? Bei meinem Weg durch die Wohnung blieb mein Blick nämlich auf einmal an der Bettwäsche hängen, die dort fein säuberlich auf dem Sofa lag, und ich kam nicht umhin mich zu fragen, wer die wohl nutzte. Da lag nämlich außerdem auch noch ein großer Rucksack auf dem Boden und ein paar Fächer im Regal waren voll Männerkleidung. Vielleicht hatte sie sich ja einen Mitbewohner hier hinein geholt. Und vielleicht sorgte der auch für die Ordnung in all den gemeinschaftlichen Räumen. Fotos konnte ich zwar nicht finden, aber beim näheren Betrachten erkannte ich im Flur außerdem einige Schuhe und Jacken, die zweifellos einem großen Mann gehören mussten. Ob er wohl von Neles Krankheit wusste? Ob er die Symptome zu seiner Befriedigung nutzte? Die zwei halbvollen Flaschen Schnaps neben dem Sofa waren mir nämlich auch nicht entgangen, derjenige war also vielleicht ganz ordentlich, aber auch sicher kein Gutmensch. Wenigstens beruhigte es mich kurze Zeit später in der Küche, dass der ganze Alkohol in den Schränken und im Kühlschrank nicht nur für Nele alleine war und dass man zumindest auch ein paar Lebensmittel dort finden konnte. In ihrer Manie war es nämlich ebenso schwierig gewesen sie zum Essen zu bewegen wie in der Depression. Neben den Lebensmitteln und dem Alkohol, fand ich im Kühlschrank aber auch ein paar Pillen, so viele, dass Nele die sicher nicht nur für sich selber da hortete, und im Mülleimer im Badezimmer, in den ich ebenfalls kurz hinein spähte, ein paar benutzte Kondome, von denen man auf ein reges Sexleben schließen konnte. Sie schien wenigstens auf Verhütung zu achten, aber obwohl mich das eigentlich beruhigen sollte, spürte ich viel eher so etwas wie Eifersucht in mir. Es belastete mich, dass Nele ihre Lust so sorgenfrei auslebte, und es ärgerte mich, dass diese Männer wahrscheinlich nicht einmal hinterfragten, weshalb sie so war. Nein, die verbrachten einfach nur eine Nacht mit ihr, nutzten ihren Körper zur eigenen Befriedigung und verschwanden dann wieder aus ihrem Leben. Und wenn in ein paar Wochen die depressive Phase wieder losgehen würde, dann wäre keiner davon mehr an ihrer Seite, um ihr zu helfen und für sie da zu sein.
Erschöpft rieb ich mir mit der flachen Hand über das Gesicht, weil ich mir jetzt nur noch unsicherer war, ob und wie ich das in Zukunft übernehmen konnte, aber vielleicht wäre sie ja morgen früh bereit und ausgeschlafen genug, um mal in Ruhe mit mir zu reden und mir ein paar Fragen über ihr Leben und über ihre Therapie zu beantworten. Einfach weil es sich falsch anfühlen würde das nicht zutun, zog ich mein Handy aus der Hosentasche und schrieb Lahja eine kurze Nachricht, dass ich Nele auf meinem Heimweg getroffen hatte und dass ich heute Nacht bei ihr blieb, weil sie völlig unzurechnungsfähig wäre. Ich wollte meiner Freundin das nicht einfach verschweigen. Erst hinterher fiel mir aber auf, dass ich mich gar nicht aufs Sofa legen konnte, wenn da eventuell noch jemand anders schlief, und ging daher zögerlich wieder in das Zimmer meiner Ex-Freundin. Egal, wir waren doch alle erwachsene Menschen. Wir konnten ja wohl zusammen auf einer Matratze schlafen und uns trotzdem beherrschen. Kopfschüttelnd schloss ich also die Tür hinter mir, schob mir selber ebenfalls die Schuhe von den Füßen und schmiss ein paar Klamotten von Nele vom Bett, damit ich genug Platz hatte, um mich neben sie zu legen. Sie schlief schon tief und fest, bekam gar nicht mit wie ich mir sogar eine eigene Decke nahm und ihr meinen Rücken zudrehte, nur um Lahja möglichst wenig Angriffsfläche zu geben, unwissend, dass das alles letztendlich doch nichts brachte. Ich konnte Nele noch so oft von mir weisen, wenn sie mal wieder versuchte sich mir zu nähern, und ich konnte meiner Freundin noch so oft erzählen, dass das der Vergangenheit angehörte, in Wirklichkeit war sie nunmal meine erste große Liebe und ich würde sie und unsere gemeinsame Zeit niemals vergessen. Ich wäre immer irgendwie anfällig für sie und vielleicht sorgte deshalb ihre Nähe und ihr Geruch dafür, dass ich in dieser Nacht seit langem mal wieder von ihr träumte. Von ihrem mir allzu bekannten Körper, ihrer weichen Haut, ihren schönen Rundungen und wie wir miteinander schliefen, unersättlich und immer wieder.
ZACHARY WILLIAM COLES # 28 YEARS OLD # STRAIGHT EDGE
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