RE: LOS ANGELES » SAN FRANCISCO
Ich hatte zwar so meine Zweifel daran, ob noch eine weitere Flasche Bier Jamie nicht eventuell den Rest geben würde, doch nachdem ich ihr gerade noch gesagt hatte sie dürfe selber über ihre Fehler entscheiden, ließ ich sie auch diesen hier einfach machen. Lieber nahm ich dankend meine eigene Flasche von ihr an, da ich selber kein Geld bei mir trug, und folgte ihr wie gewünscht zu diesem geheimnisvollen Ort, den sie auf eine gewisse Art mit einem Kuss verband. Dabei schien es allerdings weniger darum zu gehen, dass sie genau hier unsere Lippen aufeinander spüren wollte, sondern viel eher darum mir verständlich zu machen, wie genau ihre Fantasien aussahen. Dass es ihr viel mehr um das Gefühl ging, das sie sich so erhoffte, als um den Ort. Und gleichzeitig lernte ich schon wieder etwas mehr über diese junge Frau, die von viel zu vielen Menschen als Freak bezeichnet wurde. Ich lernte über sie, dass sie manchmal an Plätze wie diese kam, die Augen schloss und völlig in sich selber versank, in ihrer Fantasie. Dass dort ganze Welten in ihr lebten. Und als sie von der Bank aufstand, an die weiße Linie vor ging und dann noch einen Schritt darüber trat, ließ sie mich ansatzweise in diese Welten vordringen, die sie jahrelang unter Verschluss gehalten hatte, aber jetzt ganz langsam aus sich heraus ließ. Ein wenig rebellisch und an den Grenzen kratzend. Als könnte sie den Freak, der in ihr saß, jetzt endlich akzeptieren, anstatt sich für das zu schämen, was sie war. Weil die Gesellschaft ihr beigebracht hatte, dass man einem bestimmten Schema folgen musste.
Und als sie dort so stand, auf der anderen Seite der weißen Linie, und mich mit diesem vorfreudigen, erwartungsvollen Glänzen in den Augen ansah, bevor der Zug sie erreichte, ihre Haare und ihre Kleidung ergriff, ihren Körper in den Luftsog hinein riss, aber Jamie die Augen schloss, den Kopf ein wenig in den Nacken lehnte und standhaft diesen Windstoß um sich herum wirbeln ließ, fühlte ich mich tatsächlich so zu ihr hingezogen, wie noch nie zuvor. Ihre Gesichtszüge wirkten auf einmal so entspannt und glücklich, auf eine absurde Art sogar magisch, dass ich diesen inneren Drang verspürte sie zu berühren, meine Finger auf ihre weiche Haut zu legen und unsere Lippen aufeinander zu spüren. Vielleicht hatte Jamie das von Anfang an beabsichtigt oder sich erhofft, keine Ahnung, aber vorsichtig stellte ich meine Flasche auf der Bank ab und ging langsam die paar Schritte auf sie zu, die uns voneinander trennten. Ihre Augen waren noch immer geschlossen und der Sog des Zuges wehte ihre Haare ziellos durch um sie herum, als ich meine Arme hob, zärtlich ihr Gesicht mit meinen Händen umschloss, die Fingerspitzen mit sanftem Druck in ihrer Haut im Nacken versenkte und mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf so weit zu ihr lehnte, bis meine Lippen auf ihre trafen. Liebevoll und vorsichtig. Ich spürte die Wärme ihres Körpers auf meinem Mund, ihren Atem auf meiner Haut und vielleicht konnte ich sogar ihr Herz schlagen hören. Dieser Rausch aus dem Alkohol, dem vorbei fahrenden Zug und der Berührung unserer Körper entzog mich völlig der Realität. Es war genauso wie sie es sagte, wie es bei vielen bedeutungsschweren Küssen war, nur diesmal noch viel intensiver als jemals zuvor. Ich konnte weder hören, noch sehen. Nichts um mich herum existierte. Und ich versuchte regelrecht daran festzuhalten, indem ich meine Fingerkuppen noch etwas tiefer in Jamies Haut versenkte, ihren Körper dicht an meinen zog und meine Lippen auf ihren erneut ein wenig öffnete, ihren Atem inhalierte.
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
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