RE: LOS ANGELES » SAN FRANCISCO
Jamie traf mich mit ihren Worten wirklich genau da, wo sie mich treffen musste, und brachte mich dazu, dass ich einfach nur sprachlos und nachdenklich auf den Bordstein vor mir sah, während ich neben ihr her die Straße herunter ging. Ich hatte mich tatsächlich viel zu sehr eingemischt und eine Verantwortung auf mich genommen, die sie nicht einmal in meine Hände legen wollte. Ich hatte ihr helfen wollen, aber dabei nicht bemerkt, dass sie diese Hilfe in vielen Dingen gar nicht brauchte. Es war gut, dass sie jemanden hatte, der an ihrer Seite stand und der sie ein wenig in die richtige Richtung leitete, aber ihr Kopf funktionierte. Ziemlich gut sogar. Sie konnte eigene Entscheidungen treffen und für sich selber denken - nicht so wie die vierbeinigen Schützlinge, die ich sonst an meiner Seite hatte. Sie konnte Verantwortung für sich selber übernehmen. Und wenn sie Fehler machen wollte, dann war das okay. Wenn sie auf die Schnauze fliegen wollte, dann auch. Das war nicht nur okay, sondern eigentlich auch wichtig. Vielleicht brauchte sie das. Wie konnte sie denn jemals ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln, wenn ich sie nicht sie selbst sein ließ? Wenn ich jetzt die Rolle ihrer Eltern einnahm und versuchte ihre Entscheidungen für sie zu treffen? Das war doch eigentlich auch überhaupt nicht das, was ich wollte. Und möglicherweise galt das auch für diese komische Beziehung zwischen uns. Vielleicht sollte ich einfach für mich entscheiden, was sich richtig anfühlte, und dasselbe dann auch Jamie zusprechen.
Ich war noch immer völlig in Gedanken über ihre Worte, als ich stehen blieb und nur den Bruchteil einer Sekunde später von einem harten Aufprall getroffen wurde, der mich zwei Schritte zurück schwanken ließ. Erschrocken konnte ich dabei beobachten wie Jamie das Gleichgewicht verlor, noch versuchte sich selber zu retten, aber dank des Alkohols doch auf dem Boden landete und mich damit in lautes Gelächter versetzte. Ich hatte noch versucht es in mir zu halten, aber erfolglos. So wie sie auf einmal dort unten saß und zu mir aufsah konnte ich nichts anderes tun, als meinen Oberkörper ein wenig nach vorne zu beugen und einfach herauszulassen, wie dumm und absurd diese Situation gewesen war. Ich lachte so laut, dass ich sogar selber vor Jamie auf die Knie sank, mich mit einer Hand vor mir auf dem Gehweg abstützte, und die andere Hand auf meinen Bauch drückte, als könnte ich meinen Lachanfall dadurch regulieren. Dass damit aber auch diese dünne Eisschicht zwischen uns gebrochen war, die wir seit unserem Gespräch im Bus nicht mehr los wurden, das merkte ich erst, als ich mich langsam wieder beruhigte, das Lachen zu einem Grinsen wurde und ich Jamie von der Seite in die Augen sah. Statt dieser negativen Spannung spürte ich jetzt etwas ganz anderes, als ich langsam nickte, mich ein wenig wieder aufrichtete, aber in der Hocke vor ihr blieb. "Okay. Du bist frei, du bist alt genug und du kannst deine eigenen Entscheidungen treffen. Und wenn dazu gehört, dass du einfach aus Protest deinen Eltern erst einmal alles reinwürgst, was die immer scheiße fanden, dann steh ich dabei auch voll hinter dir, in Ordnung? Du kannst deine Erfahrungen so machen, wie du sie machen willst und wenn sie sich als Fehler herausstellen, dann ist das eben so. Dann ist das auch okay." Ich öffnete meine Handfläche in ihre Richtung, bat sie damit wortlos ihre Hand in meine zu legen. "Also was willst du tun? Was würde diese Nacht jetzt für dich perfekt machen?" Weil ich das doch eigentlich schon wusste, ohne dass sie es noch einmal sagen musste, lehnte ich meinen Kopf ein wenig zur Seite und lächelte vorsichtig. "Wie hast du dir deinen ersten Kuss vorgestellt? Gibt es da so eine Mädchen-Fantasie?"
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
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