RE: LOS ANGELES » SAN FRANCISCO
Auch wenn Jamie und ich es beide angestrengt versuchten, konnte ich das Gespräch im Bus nicht so schnell vergessen und einfach so tun, als hätte sie nie diese Dinge gesagt. Von Anfang an hatte ich Jamie nie als Frau wahrgenommen und vor allem nicht, nachdem ich von Lahja wusste, dass sie so unerfahren war. Jamie war eben- Jamie. Sie brauchte meine Hilfe, sie war so etwas wie ein Schützling für mich, jemanden auf den ich Acht geben musste. Für mich war die Beziehung zwischen uns nie auf einer sexuellen oder emotionalen Ebene basiert, sondern - so wie alle anderen Beziehungen in meinem Leben - auf gegenseitigem Nutzen und Hilfsbereitschaft. Zumindest glaubte ich das. Doch ihre Worte und meine unerwartete, unsichere Reaktion änderten etwas in mir, denn durch ihr Interesse sah ich sie automatisch mit anderen Augen. Dadurch, dass ich wusste, was dieser Kuss für sie bedeutete, ertappte ich mich selber immer wieder dabei, wie ich unbemerkt ihre Lippen betrachtete, ihre weiche Haut und die schöne Form, in der ihr Hals in ihre Schulter überging. Meine eigenen sexuellen Triebe sorgten immer wieder dafür, dass ich mit dem Blick an ihr hängen blieb und mich fragte, wie ich ihre Attraktivität so lange übersehen konnte. Ändern tat das jedoch nichts, denn ich holte mich selber immer wieder mit der Erkenntnis in die Realität zurück, dass ich nicht gut für sie sein konnte. Dass ich nicht derjenige war, mit dem sie ihre ersten Erfahrungen sammeln sollte. Nicht, nachdem sie gerade von so vielen wichtigen Menschen in ihrem Leben im Stich gelassen worden war. Das konnte ich ihr nicht antun.
Stattdessen versuchte ich also viel eher ein wenig Abstand zu gewinnen, hier in San Francisco, einfach um Jamie vor sich selber und ihren Gefühlen zu schützen. Selbst diese Freundschaft, die sie in uns sah, war doch eigentlich schon viel zu intensiv. Mir war der Blick in ihren Augen nicht entgangen, als ich sie im Bus daran erinnert hatte, dass ich irgendwann gehen würde, in eine andere Stadt. Dass sich nichts geändert hatte, dadurch, dass wir so viel Zeit miteinander verbrachten. Ich konnte mich nicht so an Jamie binden wie sie das mit mir tat. Natürlich gab ich ihr all die Hilfestellung, die sie brauchte - wir suchten uns gemeinsam einen Ort zum Übernachten, erkundeten die Stadt zusammen, gingen aus - aber wenn wir dann in einer größeren Gruppe waren, hielt ich mich absichtlich von ihr fern, ließ sie neue Kontakte knüpfen, Anschluss finden, sich selber besser kennen lernen. Und eigentlich war es auch beruhigend zu sehen, dass das so gut klappte. Dass sie bei den Leuten so gut ankam, von Tag zu Tag immer kommunikativer wurde, immer offener, immer mutiger und nicht mehr so ängstlich vor jeder Veränderung. Zumindest so lange, bis erneut etwas in mir geschah, das ich selber nicht verstand.
Jamie mochte dafür zu naiv sein, aber mir entging nicht der Blick, mit dem sie von einem anderen Mitbewohner immer wieder angesehen wurde. Ich hatte mich nur kurz mit ihm unterhalten, wusste, dass er bereits Ende 20 war, ebenfalls Aussteiger, Freigeist oder wie man es heutzutage in diesen Kreisen nannte. Sympathisch, eigentlich, wenn seine Augen nur nicht immer so an Jamie kleben würden. Als warte er nur auf seine Chance. An sich ging es mich ja nichts an, deshalb hielt ich mich selber auch zurück und beobachtete lieber stillschweigend. Zumal ich auch davon ausging, dass Jamie sich nicht dem Erstbesten an den Hals werfen würde, eigentlich war sie ja ein vernünftiges Mädchen, aber dabei hatte ich wohl nicht den Einfluss von Alkohol bedacht. Wir beide waren bereits gut abgefüllt, als wir mal wieder abends in einer größeren Gruppe im Haus saßen und ich aus dem Augenwinkel beobachtete, wie Jamie versuchte aufzustehen, von ihrem Bier bereits ganz wackelig auf den Knien. Ich war jedoch nicht der Einzige, dem das auffiel, denn noch ehe ich überhaupt darüber nachdenken konnte ihr meine Hilfe anzubieten, stand direkt schon der andere Mann neben ihr, legte stützend eine Hand auf ihren Rücken und bot bereitwillig seine Hilfe an. Hilfe, ja klar. Meine Augen fixierten sich regelrecht auf die beiden, so lange, bis sie aus der Tür hinaus verschwunden waren und ich mit einem unruhigen Gefühl im Magen zurück blieb. Eigentlich hoffte ich darauf, dass der Alkohol mich gleichgültig stimmte, aber das tat er nicht. Im Gegenteil. Ich wurde vollkommen blind und taub für alles andere, das um mich herum geschah, als ich mir bildlich im Kopf vorstellte, wie die beiden sich näher kamen. Jamie konnte sich in ihrem Zustand doch gar nicht gegen ihn wehren. Spätestens morgen würde sie das bereuen. Der Mann war viel zu alt und davon abgesehen- auch er konnte jeden Tag verschwinden. So wie ich. Hielt ich mich dafür von ihr fern? Dass sie - statt mir - ihre ersten Erfahrungen dann mit jemandem machte, den sie kaum kannte? Dem sie nicht einmal vertrauen konnte? Der sie nicht wirklich wertschätzte? Es war definitiv eine Alkohol-bedingte Kurzschlussreaktion, dass ich mein Bier auf einem Tisch abstellte und ebenfalls aus dem Raum hinaus ging, die Treppen nach unten lief, in Richtung der Toilette. Jamie wollte gerade hinein gehen, der andere Mann legte von hinten seine Hände an ihre Hüften, drückte sich an sie, flüsterte ihr irgendetwas ins Ohr, lächelte dabei. Ich konnte nicht sehen, ob Jamie das wollte oder nicht, aber in diesem Moment war es mir auch völlig egal. Seit Wochen passte ich doch schon auf Jamie auf, half ihr immer wieder, achtete auf sie, versuchte zu verhindern, dass ihr jemand Unrecht tat. Es gehörte doch zu meinen Aufgaben, dass ich mich den beiden fest entschlossen näherte und gerade noch verhindern konnte, dass sie gemeinsam im Badezimmer verschwanden. "Jamie", sprach ich laut aus und zog damit ihre Aufmerksamkeit auf mich. "Ist alles in Ordnung? Gehts dir gut?" Ganz offensichtlich starrte ich den anderen Mann verächtlich an, mit hartem Blick. "Ist sie nicht ein bisschen jung für dich?"
AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS
![[Bild: gus04.png]](https://i.postimg.cc/rw0CVHWj/gus04.png)
|