GÜTERBAHNHOF

[Gus Evans]

Manchmal - unter anderem auch jetzt - konnte ich noch immer nicht so recht glauben, dass ich in diese Familie von Jamie hinein geraten war und wie sich mein Leben dadurch verändert hatte. Ich war zwar noch nicht wirklich ein Teil davon, wahrscheinlich rechneten alle damit, dass ich plötzlich wieder verschwand, aber es war schön diese Zuneigung beobachten und miterleben zu können. Diese kleinen Freaks, wie Jamie sie so passend betitelte, hatten mir ein ganz neues Verständnis von Zusammenhalt und Nächstenliebe gegeben, das ich vorher noch nicht so erleben durfte: Man akzeptierte sich einfach. Matt war ein bisschen zu faul, Kilian zu griesgrämig, Madison zu impulsiv, Lahja zu wütend und Jamie zu schüchtern, aber absurderweise war das einfach okay. Man versuchte nicht sich zu verändern, sondern auch diese negativen Eigenschaften zu schätzen und sogar etwas Gutes darin zu finden. In meinem Leben aus Ablehnung und Desinteresse kannte ich das so nicht und selbst wenn Jamie und ich nie wieder zueinander finden würden, dann wäre ich ihr trotzdem immer dankbar dafür, dass ich das erleben durfte.
Doch anstatt sich erneut vor mir zu verschließen, tat sie diesmal etwas ganz anderes. Mein Herz blieb stehen, als sie ihre Finger um meinen Kragen legte, mich noch näher zu sich heran zog. Atemlos sah ich sie an, als sie selber alle Zweifel aus dem Weg räumte, mehr als das sogar, und als sie danach tatsächlich ihre Lippen auf meine drückte - ganz vorsichtig - zog sich so etwas wie ein Rausch durch meinen gesamten Körper. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich konnte in diesem Moment überhaupt nichts sagen, ich konnte nicht auf ihre Worte reagieren. Das Einzige, was mir gelang, war ebenfalls meine Hände langsam zu heben, meine Finger um ihr Gesicht zu schließen, die Kuppen sanft in ihre Haut zu drücken und sie erneut dicht an mich zu ziehen, um Jamie zu küssen. Zärtlich, liebevoll und vor allem länger. Ein vorbeifahrender Zug wäre diesmal tatsächlich völlig unnötig, mein Herz raste auch von ganz alleine und selbst ohne den Fahrtwind zog sich ein Kribbeln durch meinen gesamten Körper, das auch dann noch anhielt, als ich meine Lippen wieder von ihren löste, aber trotzdem so nah bei ihr blieb, dass wir gegenseitig unseren warmen Atem auf der Haut spüren konnten. "Ich wollte immer ein Date. Mit dir. Und ich wollte immer- noch eine Chance. Seit ich- dir nach Miami hinterher gereist bin wollte ich immer nur wieder gut machen, was ich vorher selber kaputt gemacht hab." Unsicher sah ich in ihre Augen, weil ich es danach noch einmal geschafft hatte ihr Vertrauen in mich zu zerstören. "Das tut mir so Leid." Und wieder küsste ich ihre Lippen, löste dabei aber meine Hände von ihrem Gesicht, um die Arme stattdessen um ihre Schultern zu legen und ihren Körper sanft gegen meinen zu drücken. "Und deine Zeichen- ich dachte- manchmal dachte ich du magst mich noch, aber du willst das nicht, wegen allem, was passiert ist. Und ich wollte keinen Fehler machen, weil- dann hättest du mich vielleicht rausgeschmissen und- dann wäre alles vorbei gewesen." Noch einmal küssten wir uns, ehe ich meinen Kopf ein wenig zur Seite lehnte, um Jamie einfach fest zu umarmen und tief einzuatmen. Wie gut sich das anfühlte.