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LOS ANGELES » SAN FRANCISCO
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Gus Evans
REVOLT, REBEL, RESIST!


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Beitrag #6
RE: LOS ANGELES » SAN FRANCISCO
Gleichgültig schüttelte ich den Kopf. "Nein, eigentlich nicht. Wenn ich mich entscheide zu gehen, dann entscheide ich mich ja dafür, weil ich nicht nur mit der Stadt abgeschlossen hab, sondern auch mit den Leuten." Ich bemerkte gar nicht wie nervös Jamie neben mir war, dass sie diese Frage auch auf sich selber bezog. Oder eher- ich konnte nicht den Zusammenhang herstellen zwischen ihrer Körpersprache und unserer Beziehung zueinander. Wenn ich es zwischen zwei anderen Personen beobachten konnte, dann war das für mich keine Schwierigkeit. Ich sah in ihrem Blick, wie viel Respekt Jamie vor ihrem Vater hatte oder wie wichtig ihr Halbbruder ihr geworden war, aber ich konnte diese Emotionen in anderen Personen nie auf mich selber beziehen. Geschweige denn erwidern. Mit Zweckgemeinschaften konnte ich umgehen, ich hatte das in früheren Beziehungen oft mit Zuneigung gleichgesetzt. Ich konnte es auch verstehen, wenn jemand meine Nähe suchte, um daraus einen Vorteil zu ziehen, genau das sah ich auch gerade in Jamie. Ich war hilfreich für sie, für ihr Selbstbewusstsein und für ihren Kampf gegen die Angst. Aber echte zwischenmenschliche Emotionen? Dass Jamie etwas für mich empfinden könnte und nicht nur für den Nutzen, den sie aus mir zog? Das konnte in meinem Kopf nicht verarbeitet werden und das machte mich unfassbar unsensibel für das, was in ihr vorging, wenn sie mich ansah.
Eigentlich etwas, das überhaupt nicht zu dem passte, was Jamie von mir kannte, denn als sie über ihren Vater sprach und über das Leben, das er ihr beigebracht hat, sah ich ihr wieder liebevoll in die Augen, lächelte ihr aufmunternd zu und streckte sogar meine Hand zu ihr herüber, um meine Finger mitfühlend auf ihren Unterarm zu legen. "Es ist nicht deine Schuld, dass er so war und dass er es dir so beigebracht hat. Als Kind hat man da keine Kontrolle drüber. Bei Hunden ist das ähnlich, die binden sich an ihren Besitzer und lassen sich durch Angst kontrollieren. Wenn dieser Besitzer ihnen dann zum Beispiel beibringt, dass sie nicht bellen dürfen, indem er wütend und angsteinflößend wird, sobald sie es tun, dann hören sie irgendwann damit auf, obwohl das eigentlich ein Grundbedürfnis von Hunden ist. Sie tun es trotzdem nicht. Aber das heißt nicht, dass der Wunsch nicht mehr existiert. Eigentlich brauchen sie einfach nur jemanden, zu dem sie Vertrauen aufbauen können, und der ihnen dann zeigt, dass es okay ist auch mal vor Freude oder vor Angst oder vor Aufregung zu bellen." Ich wusste nicht, ob Jamie den Zusammenhang zu sich selber verstand, deshalb nickte ich ihr noch einmal motivierend zu. "Wie wäre es, wenn wir in den nächsten Tagen mal gemeinsam ein paar Dinge abhaken, die dir immer Angst gemacht haben? Damit du siehst, dass das alles irgendwie okay ist?"
Dass sich genau diese gerade angesprochene Panik kurz darauf in ihrem Blick zeigte, als sie mich und das Messer in meiner Hand ansah, verwirrte mich anfangs völlig, doch als ich durch ihre Fragen verstand, worauf sie hinaus wollte, schüttelte ich fest den Kopf. "Nein, ich hätte niemandem was getan. Ich glaube-" Unsicher drehte ich das Messer in meiner Hand, betrachtete es dabei von allen Seiten. "Ich glaube, ich mache mir damit nur das Zunutze, worüber ich grad gesprochen hab. Erziehung durch Angst. Jeder hat doch Angst um sein Leben, für mich war das die wirksamste Methode, damit die dich endlich in Ruhe lassen." Als ich Jamie wieder ansah wirkten meine Augen noch immer unruhig und überfordert, weil sie mich gerade dazu zwang mein Handeln zu reflektieren und ich selber nicht verstehen konnte, weshalb ich zu solch drastischen Maßnahmen gegriffen hatte. Weshalb war ich direkt so wütend geworden? Hätte es nicht auch andere Möglichkeiten gegeben ihr zu helfen? "Tut mir Leid, ich wollte nicht, dass das- so bei dir ankommt. Ich hab das Messer zu meiner Verteidigung und genau dafür hab ich es auch schon mehrmals benutzt, ja, aber ich hab noch nie jemanden ernsthaft verletzt. Und das will ich auch nicht. Ich wollte dir nur helfen." Aus dieser bereits vorhandenen Verwirrung kam es auch, dass ich diesen völlig überstürzten Kuss nicht mehr so distanziert betrachten konnte wie noch vor ein paar Stunden. Insbesondere dann nicht mehr, als Jamie mir sagte, dass sie noch nie zuvor jemanden geküsst hatte. Völlig untypisch für mich wurden auch meine Hände ruhelos, wieder drehte ich das Messer in meiner Hand, sah ziellos durch den Bus, aber nichts konnte mich davon ablenken, dass ich absolut nicht verstand, was gerade hier geschah. Wie Jamie sich mir gegenüber verhielt, wie ich mich ihr gegenüber verhielt. Ich konnte damit nicht umgehen und ich merkte in mir, dass dies eine Situation war, aus der ich ausnahmsweise fliehen wollte. Aber wie denn? Wir saßen in einem Fernbus, der für mehrere Stunden seine Türen nicht mehr öffnen würde. "Ist schon okay, du warst bestimmt einfach nur- dankbar", brachte ich deshalb schnell zwischen den Lippen hervor, in der Hoffnung diesem Gespräch dadurch ausweichen und uns beiden ihr Verhalten erklären zu können.


AUGUSTUS EVANS # 25 YEARS OLD # HOMELESS

[Bild: gus04.png]
05.07.2015 14:47
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LOS ANGELES » SAN FRANCISCO - Admiss - 04.07.2015, 12:47
RE: LOS ANGELES » SAN FRANCISCO - Gus Evans - 05.07.2015 14:47