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BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:30

Haily,
du fehlst mir.

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:30

Haily,
ich kann nicht schlafen. Normalerweise, wenn ich nicht schlafen kann, dann lese ich. Meistens Bücher, die ich schon hundert Mal gelesen hab. Oder ich schreibe an neuen Texten. Oder ich denke. Aber nichts davon will heute Nacht funktionieren. Es ist jetzt 4 Uhr morgens und schon seit Stunden sind die Worte in meinen Büchern nur noch verschwommen, meine Texte wirken zusammenhanglos und die Gedanken in meinem Kopf, die will ich nicht denken. Also schreibe ich dir. Man hat mir einen Therapeuten zugeteilt, der mich dazu motiviert hat ein Tagebuch zu führen, nur für mich, um meine Emotionen zu ordnen, aber ich habe das in meinem Leben schon oft versucht und bin jedes Mal gescheitert. Ich weiß nicht, was ich einem Blatt Papier erzählen kann, das mich nicht hört. Gerade eben kam mir aber eine Idee: Was, wenn du mein Tagebuch bist? Was, wenn ich statt meinem Tagebuch dir alles erzähle, was in meinem Kopf passiert? Ich kann diese Briefe nicht abschicken, weil ich nicht weiß, wo du gerade bist, wann du wiederkommst und ob du das überhaupt tust, aber es fällt mir leichter mit dir zu reden, als mit einem Blatt Papier. Du bist also von jetzt an mein Tagebuch. Hailybuch. Hallo Hailybuch. Ich fühle mich verloren, heute war kein guter Tag. Ich hoffe dir geht es besser.

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:31

Haily,
mein Therapeut mag die Idee, dass ich dir schreibe. Er ist der festen Überzeugung, dass mir das helfen wird die Fassung zu bewahren. Damit ich nicht vollkommen durchdrehe. Manchmal fühle ich mich hier nämlich so: Als würde ich den Verstand verlieren. Jeder Tag ist genauso wie der vorherige, jede Stunde durchstrukturiert.
6 Uhr: Aufstehen.
7 Uhr: Frühstück.
8 Uhr: Therapie.
9 Uhr: Arbeit.
13 Uhr: Mittagessen.
14 Uhr: Arbeit.
17 Uhr: Ausgang.
18 Uhr: Abendessen.
22 Uhr: Nachtruhe.
Und dazwischen Leerlauf. Stunden, die zu Momenten werden. Momente, die sich mit Gedanken füllen. Gedanken, die Hass schüren. Auf mich. Auf dich. Auf Menschen, die ich nicht einmal kenne. Manchmal, da fühlt es sich so an, als würde ich nur noch aus Hass bestehen. Aus Wut. Du bist der sanftmütigste, liebenswerteste Mensch, den ich kenne, Haily, und trotzdem: Jetzt gerade, in diesem Moment, gibt es da nur Hass. Hass auf dich und auf deine schönen Augen, deine weiche Haut, auf dein Lachen, deine Wärme, deine Küsse, deinen Körper, deine Nähe. Auf all das, was ich jetzt nicht haben kann. Auf alles, was mich dich vermissen lässt. Denn du bist dort und ich bin hier und zwischen uns unüberwindbare Mauern. Nicht nur aus Beton, sondern auch die, die man nicht greifen kann. Und das ist das Schlimmste.
Du fehlst mir. Ich hasse, dass du mir fehlst.

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:31

Haily,
light up the night, wild one. Your smile is going to save someone’s life.

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:33

Haily,
erinnerst du dich noch an den Tag, als wir gemeinsam auf deinem Bett lagen? Als ich von meinem Vater erzählt habe? Davon, was ich getan hab? Du hast mir damals drei Fragen gestellt. Du hast mich gebeten sie nicht zu vergessen, die Antworten irgendwann mit dir zu teilen. Du hast versprochen dich zu gedulden. Erinnerst du dich noch? Ich erinnere mich. Hier sind deine Antworten, Haily.

Erstens, wie fühlt es sich an, eingesperrt zu sein?
Ich kann nur von mir sprechen, von meinem Empfinden, aber für mich ist es nicht der Freiheitsentzug an sich, der mich am meisten belastet. Ich habe damals früh gelernt wie es sich anfühlt wochenlang, monatelang, ja sogar jahrelang an ein einziges Gebäude gebunden zu sein, vielleicht kommt mir das heute zugute, aber viel eher glaube ich, dass es einfach nichts gibt, was ich vermissen müsste. Ich bin nicht so wie du, Haily. Ich laufe nicht mit großen, offenen Augen durch die Welt. Ich zelebriere meine Freiheit nicht, indem durch das Land reise und dabei zahllose Menschen kennenlerne. Indem ich durch Wälder tanze. Meine liebste Gesellschaft ist die meiner selbst. Ich bin gerne allein. Ich bin gut darin allein zu sein. Das macht es leichter.
So wie früher versuche ich auch diesmal mich abzulenken: Mit der Arbeit, die ich hier ausführe. Mit meinen Büchern. Damit, dass ich dir schreibe. Meine Therapie nimmt viel Zeit in Anspruch, mein Kopf ist dadurch ständig beschäftigt. Meinem Körper gefällt der regelmäßige Tagesablauf, die Struktur. Vor ein paar Tagen habe ich sogar wieder begonnen zu trainieren. Und die Distanz von den Drogen, die tut mir gut. Vielleicht erkennst du mich gar nicht mehr, wenn ich hier raus komme. Falls ich hier raus komme.
Glaub mir, es ist nicht schlimm hier zu sein, wenn man da draußen nichts zu vermissen hat. Keine Freunde. Keine Partnerin. Keine Familie. Eltern. Niemanden. Aber das ist das Problem. Und das macht es jetzt so viel zermürbender für mich, als damals, denn mit jedem Tag, den ich hier bin, vergeht ein weiterer, an dem ich nicht bei dir sein kann. Und das ist das Schlimmste an diesem eingesperrt sein: Dass es dich hier nicht gibt.

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:33

Haily,
es ist mitten in der Nacht, ich kann mal wieder nicht schlafen. In meinem Trakt wurde heute jemand umgebracht, mit einer Rasierklinge, und ich frage mich, warum ich hier bin. Ob ich hierher gehöre. Wiederholungstäter nennt man mich. Gewalttätig. Unberechenbar. Ich denke, wenn man die Dinge objektiv betrachtet, dann muss ich hier sein, in einem Hochsicherheitsgefängnis mit lauter anderen Männern, die für nicht gesellschaftsfähig gehalten werden. Weil auch ich das nicht bin. Ich kann nicht einfach durch die Welt gehen und den Menschen das Leben nehmen, die mir Unrecht getan haben. So funktioniert das nicht, richtig? Aber warum fühle ich mich dann hier so falsch?
Ich versuche mich möglichst isoliert zu halten, ich spreche mit niemandem und möchte mich auch nicht in die herrschenden Hierarchien eingliedern. Weil ich den Sinn darin nicht sehe. Weil ich, glaube ich, noch nicht realisiert habe, dass ich für mehrere Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, hier sein werde. Obwohl ich das alles schon einmal erleben musste, fühlt es sich so an, als würde ich jeden Moment in mein altes Leben zurückfinden. Als wäre das alles nur ein grauenhafter Traum gewesen. Als würde gleich jemand hier hinein spazieren, die Tür öffnen und mir die Freiheit geben dorthin zu gehen, wo ich sein möchte. Wo ich mich Zuhause fühle. Wo ich hingehöre. Aber immer, wenn ich so weit denke, halte ich inne und stelle fest, dass ich nicht einmal mehr weiß, wo das ist. Zuhause. Und wenn ich nicht weiß wo das ist, woher weiß ich dann, wo es nicht ist?

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:33

Haily,
in meinem Kopf spiele ich jeden einzigen Moment durch, den wir gemeinsam erlebt haben. Ich zähle sie zusammen, multipliziere sie, doch das Ergebnis ist immer zu wenig. Immer im Minusbereich. Ich hatte gerade erst angefangen dich kennen zu lernen, deinen Geschichten zu folgen. Du fehlst mir.

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:33

Haily,
zweite Frage, was sind deine liebsten Gedichte?
Wenn ich ehrlich bin, dann müsste ich dir sagen, dass ich keine einzelnen liebsten Gedichte habe, sondern das Gesamtwerk von Charles Bukowski mein liebstes Gedicht ist, aber das weißt du schon längst und ich habe das ungute Gefühl, dass du mich mit großen, enttäuschten Augen ansehen würdest, wenn du jetzt bei mir wärst. Tatsächlich ist es aber so. Bei Gedichten ging es mir nie um bestimmte, komplexe Reim-Schemata, um ausgefallene Worte oder um die Bewegung in der Stimme, sondern nur um eines: Um das Gefühl. Die Emotionen. Für mich sind Gedichte wie Musik. Sie erzählen keine strukturierte Geschichte, es geht darin nicht um große Heldentaten, um abenteuerliche Protagonisten, um Spannung, Klimax, sondern nur darum, was man spürt, während man sie liest. Bukowski ist nicht der beste Lyriker, aber ich habe in seinen Werken Verständnis für mich und für meine Weltanschauung gefunden. Er transportiert das, was ich schon lange gefühlt habe, aber nie in Worte fassen konnte. Eine tiefgreifende Hoffnungslosigkeit, Zerstörungswut und einen allumfassenden Weltschmerz. Man spürt seinen Hass, seine Einsamkeit, seine Süchte, die Depression. Den Pessimismus. Er war ehrlich, versoffen, feige, hässlich und hat denselben Wahnsinn gespürt, den auch ich spüre. Und doch merkt man an seinen Worten immer wieder, dass für ihn das Leben zu verführerisch ist, um voreilig den letzten Ausweg zu wählen. Er hat mir damals das Gefühl gegeben nicht allein zu sein, mit dem, was ich denke, wer ich bin, wonach ich strebe, und er hat mich dazu motiviert ebenfalls zu Schreiben. Meine Worte bilden zwar keine Gedichte, sondern Songtexte, aber die Intention dahinter, die war immer dieselbe.

Aber keine Sorge, Haily. Um deine großen, enttäuschten Augen zu trösten werde ich dir nach und nach ein paar der Gedichte aufschreiben, die eine besondere Bedeutung für mich haben. Dadurch, dass ich bestimmte Erinnerungen oder Erfahrungen damit verbinde.
Heute ist es dieses. Jahrelang hab ich die Worte nicht verstanden, ich kannte dieses Gefühl nicht, von dem Bukowski da geschrieben hat, doch mittlerweile erkenne ich den Sinn. Aus Gründen.

I will remember the kisses
our lips raw with love
and how you gave me
everything you had
and how I
offered you what was left of
me,
and I will remember your small
room
the feel of you
the light in the window
your records
your books
our morning coffee
our noons our nights
our bodies spilled together
sleeping
the tiny flowing currents
immediate and forever
your leg my leg
your arm my arm
your smile and the warmth
of you
who made me laugh
again


Du fehlst mir. Heute ganz besonders.

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:34

Haily,
jeden Morgen wache ich auf und stelle fest, dass ich für einen Moment vergessen habe, wo ich bin. Weshalb ich hier bin. Was geschehen ist. Doch sobald ich meine Augen öffnete, erfasst mich die Realität und begräbt mich unter sich. Sobald ich meine Augen öffne ist da dieser Druck. Diese Schwere. Dieses Gefühl, dass die steinernen Wände meinem Körper immer näher kommen. So nah, dass mir die Luft zum Atmen fehlt.
Doch jeden Morgen wache ich auf und für einen Moment, für eine Sekunde, ist die Welt in Ordnung. Und daran halte ich fest, bis ich nicht mehr kann.

Aiden


RE: BRIEFE AN HAILY - Aiden Rutherford - 31.12.2016 01:34

Haily,
ein weiteres Gedicht für dich heute. Nicht wirklich ein Gedicht diesmal, nur ein Zitat, aber ich hoffe, dass du dich erinnerst, auch ohne, dass ich dir erkläre, warum.

The blankets had fallen off and I stared down at her white back, the shoulder blades sticking out as if they wanted to grow into wings, poke through that skin.

Dein Rücken war das schönste Gemälde, das ich je gesehen hab, Haily. Deine Farben haben meine Welt verändert. Ich danke dir.

Aiden